Ah, ich weiß, welches Lied du meinst. Und ich finde, auch, wenn es nicht direkt ganz klassischer Horror ist, so passt es doch perfekt zu unserem kleinen Halloween-Special hier, denn für die Frau muss es der Horror sein und ein in den Wahnsinn abdriftender Arzt ist einfach ein idealer Protagonist für eine solche Geschichte. Sehr schön!
Entschuldigt, dass ich eine solange Geschichte poste, aber ich hatte so wenig Zeit. Die Geschichte ist keine des Grauens, aber eine halbwegs unheimlich-herbstliche. Mit etwas mehr Zeit hätte ich die Atmosphäre etwas schöner ausgestalten und ihr ein unheimlicheres Ende spendieren können, aber ich glaube sie ist so auch ganz unterhaltsam für einen kalten Herbstabend. Beim Weltenbau hat sie mir jedenfalls geholfen
Am Ende der Welt
Während er gelangweilt an die Fensterscheibe gelehnt da saß und lustlos die Mischung aus seinem eigenen Spiegelbild und der abwechselnd bergigen und dicht bewaldteten Landschaft betrachtete, fragte sich Faidias, ob er sich richtig entschieden hatte. War es klug gewesen, diese Stelle anzunehmen? Hätte es in Pellas nicht vielleicht doch bessere gegeben?
Die quietschenden Bremsen rissen ihn aus den Überlegungen und ließen ihn seine Taschen abzählen und abtasten. „Wie dumm!“, flüsterte er erst zu sich, bevor er es beinahe lauthals ausschrie: „Wie dumm!“ - Da war niemand, der ihn hören konnte, niemand, der ihn in seinen tagträumerischen Überlegungen hätte bestehlen können. Er saß allein im Wagon, dem einzigen Passagierwagon, den dieser Zug überhaupt hatte. Vor zwei oder drei Jahrzehnten hätte dieser Wagon noch stolz für das florierende Geschäft der Yperton-Minengesellschaft geworben, doch die Jahrzehnte hatten das einst kostbare Holz der Wagenvertäfelungen stumpf und schwarz werden lassen. Die Polster waren abgenutzt, zerschlissen und die Federn drückten sich unangenehm ins Fleisch, was man jedoch nur merkte, wenn man sich ein wenig bewegte, da man sich an den Druck doch recht schnell gewöhnte, jedenfalls, wenn man müde war. Die Lampen warfen nur ein dumpfes, mattes Licht in den Wagon, was Faidias bei jedem Tunnel gemerkt hatte, den der Zug durchqueren musste. Es war fraglich, ob sie nur stark eingestaubt waren, oder ob sie sogar noch elektrisch betrieben waren. Die Polsterbänke und Tische kündeten davon, dass vor wenigen Jahrzehnten noch ein Ausschank betrieben wurde und die vielen runden, ringartigen Flecken sprachen von einer gewissen Feierlaune. Doch dann kamen Krieg und Depression dem Wagon in die Quere. Ein paar immer noch eher behelfsmäßig gestopfte Einschusslöcher in der von ihm aus linken Wagonseite erzählten davon, dass dieser Wagon mindestens einmal in Kampfhandlungen geraten war. Ob das während des Krieges geschehen war oder in der folgenden Wirtschaftskrise ihm Banditen aufgelauert hatten, verrieten sie jedoch nicht.
Als das Quietschen und Ruckeln des Zuges sich intensivierte, konnte Faidias bereits seine neue Heimat erkennen: Glinne, eine Ansammlung von vielleicht einem paar Dutzend Häusern, die in keinem besseren Zustand waren als der Wagon, in dem er diesen Ort erreichte. Der Sog der untergehenden Yperton-Minengesellschaft hatte auch die kleine Siedlungen mitten im Nirgendwo der Berge erfasst und in den Abgrund gezogen.
Ein kühler Wind begrüßte ihn beim Ausstieg, ungewöhnlich kühl für diese Jahreszeit, aber ob das auch auf das hiesige Klima zutraf? Wenn der Bahnhof das Aushängeschild einer Ortschaft ist, dann hätte dieses ihm ein Warnschild sein sollen und er hätte prompt kehrt machen und den Zug zurück nach Tyre nehmen müssen. Es war nicht nur die verfallende Dekadenz, die abblätternde Zierleisten, rostige Wartebänke und flackernde, elektrische Lampen überall am Bahnhof verkündeten, oder die im Wind klappernden Schilder der Yperton-Gesellschaft, die niemand in den letzten Jahrzehnten abgenommen hatte. Es waren die Menschen selbst. Für jemanden, der wie Faidias aus einer Großstadt kommt sind Bahnhöfe ein Ort geschäftigen Treibens, durch den sich Menschenmassen gesichtslos und anonym schieben, oft in Hektik, manchmal in purer überforderter Verzweiflung und das alles unter dem im Lärmwirrarr von Zugbremsen und Menschenmassen kaum verständlichen Gemurmel der Bahnhofsdurchsagen. Doch der Glinner Bahnhof war nicht so unpersönlich. Ein halbes Dutzend Glinner stand am Bahnsteig und wartete darauf, dass der Zugführer den Güterwagon freigab. Sie waren groß und schmutzig, ihre Hände rauh und ledrig, ihre Gesichter eingefallen und zerfurcht, die Augen von tiefen Ringen umgeben. Zwischen ihren gelben Zähnen klemmten krumme Zigarettenstummel und aus den Taschen ihrer abgetragenen Arbeitshosen blickten die Hälse von Schnapsflaschen, billigem Fusel, hervor. Faidias konnte nicht einordnen, ob die Kerle zu betrunken waren oder ihr seltsam abgehacktes Bellen vielleicht der hiesige Dialekt war. Sie schenkten ihm keine Beachtung, nur einer von ihnen war Faidias einen starrenden Blick zu und leckte sich dabei langsam über die rechte Hälfte seiner Oberlippe. Als der Zugführer ihnen kommentarlos den Güterwagon aufschloss, machten sie sich gleich daran diesen zu entladen und schleppten Kiste um Kiste heraus und trugen sie durch das Bahnhofsgebäude.
Faidias stand zwischen seinen Taschen auf dem Bahnsteig und blickte auf die Uhr, die über einem nur noch schwer lesbarem Abfahrtsplan hing, der drei An- und Abfahrten an jedem Werktag verkündete. Die Uhr jedoch zeigte Viertel nach zwei an, was weder als Tages- noch als Nachtzeit gerade in Frage kam, obwohl sich der Sekundenzeiger immer in Bewegung befand.
„Entschuldigung. Entschuldigung. Entschuldigen Sie!“, keuchte der Mann der aus dem Bahnhofsgebäude auf ihn zu gerannt kam. „Sind Sie, Faidias Phumersas?“ Faidias überlegte, ob er dies verneinen sollte, unterließ den Scherz aber und nickte. Der Mann in seinem abgetragenen, fleckigen Gehrock bemühte sich aufrecht vor Faidias zu stehen, seine Haaren wirkten speckig und wild, sein Gesicht abmergelt, er dünstete eine Aura von Alkohol aus. Als ob seine Gesichtsmuskeln es nicht gewohnt waren, strengte er ein Lächeln an, das seine gelb-braunen, nicht vollständigen Zähne preisgab. „Entschludigen Sie, Herr Phumersas, der Zug kommt, wann der Zug kommt und man hat mir nicht zeitig Bescheid gegeben, dass der Zug jetzt kommt. Mein Name ist Sorras Taloniris und im Namen der Ortschaft Glinne heiße ich Sie, nun ja, in Glinne willkommen. Wir freuen uns sehr über Ihre Anwesenheit und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Verrichtung ihrer Tätigkeiten.“ Fast derselbe Wortlaut, wie im Brief, dachte Faidias. „Ich werde Ihnen ihr Haus zeigen, bitte, folgen sie mir, vor dem Bahnhof wartet mein Wagen.“ Mit den letzten Worten ergriff Taloniris zwei Taschen, verzog dabei sein Gesicht als würden sie voller Steine sein, und ging mit einem schmerzhaften Lächeln in Richtung Bahnhofsgebäude, bevor Faidias auch nur reagieren konnte, sodass ihm nichts Anderes übrig blieb, als die verbliebenen Gepäckstücke zu nehmen und ihm hinterher zu trotten.
Der Wagen entpuppte sich als Karren, der von zwei zerzausten Eseln gezogen wurde. Faidias schüttelte den Kopf, um die Verwunderung darüber loszuwerden. Hatte er wirklich mit einem Auto gerechnet?
Nachdem die Taschen auf der schmutzig-schwarzen Ladefläche abgelegt waren, kletterte Taloniris zittrig auf den Kutschbock und klopfte mit zu einer Kralle verkrampften Hand auf den Platz neben sich. Faidias schaute sich um, doch außer einem anderen Wagen auf den die sechs Gestalten vom Bahnhof die Güterkisten verluden, war Glinne leer und verlassen. Die grauen Fenster fielen an den grauen Häuserfassaden nur auf, wenn zufällig ein Lichtstrahl durch die grauen Herbstwolken brach. Alles war schmutzig, als wäre erst am Morgen eine Schlammlawine durch Glinne gespült. Und es war still. So still, dass Faidias das schnaufen der Esel hören konnte und meinte das brabbelnd-aggressive Singen der sechs Frachtarbeiter noch hören, wenn diese schon längst im leeren Bahnhofsgebäude verschwunden waren. Er stieß seinen Atem kräftig durch die Nase aus, atmete dann tief ein und schwang sich auf den Kutschbock. Taloniris trieb die Esel an und der Karren setzte sich klackernd in Bewegung.
„Glinne ist recht …“, Faidias schluckte, „beschaulich.“
„Oh, ja, ähm, also das hier ist das Dorf Glinne. Hier leben nur knapp, ähm, 60 Leute, nochmal so viele verteilen sich, ähm, auf eine Reihe von Gehöften im umliegenden Tal“, Taloniris hustete. „Da vorne, ähm“, er deutete auf ein klappriges Gebäude mit einer noch klapprigeren Bank neben der Eingangstür und einem Winkel, in dem in vergangenen, besseren Zeiten einmal ein Schild gehangen haben musste, „das ist Mudholle, ähm, unser Wirtshaus. Gibt auch Essen da. Früh bis Neune, ähm, Mittags zwischen Zwölfe und Zweie und, ähm, der Ausschank beginnt dann um Sechse und da gibt‘s dann auch Speisen.“
Faidias nickte. Der Wagen holperte weiter über die steinige Straße.
„Da ist der Laden. Ähm, also unser einziger Laden. Da gibt‘s Alles, ähm, was man so braucht. Hat offen, ähm, wenn offen ist. Am besten geht man am Tag einkaufen, ähm, also am Tag nachdem der Zug da war. Ähm, nur als Tipp.“
Faidias nickte und der Wagen holperte weiter über die steinige Straße. Taloniris erwähnte in der Vorbeifahrt noch etwas über das Gotteshaus, die Zeiten der Predigt und weitere Dinge, aber Faidias hörte schon nicht mehr richtig zu. Bis auf wenige Ausnahmen schienen sich alle Häuser in Glinne an der einzigen Straße entlang zu reihen, die leicht gewunden vom Bahnhof wegführte. Einige der Häuser mussten leer stehen, oder viele Glinner alleine in den vor sich hin zerfallenden Häusern leben.
Der Wagen polterte aus dem Dorf heraus die Straße entlang in Richtung der hügeligen Wälder und die Fahrt wurde dabei unruhiger. Einem verfallenen Wegweiser entnahm Faidias, dass dieser Weg auch zu den Yperton-Minen führte, aber noch bevor diese auch nur in Sichtweite gerieten, bogen sie ab und fuhren auf einem noch schrecklicheren Pfad in den Wald hinein. Der herbstbraune Wald wirkte beinahe freundlich im Vergleich zur Tristesse des Dorfes. Es dauerte dann auch nicht lang, bis sie vor dem rostenden, teilweise überwachsenen Gitterzaun eines größeren Hauses zum Stehen kamen. Ein altes Emailleschild am Tor zeigte noch ein gutes Drittel des Arvelischen Wappens, aus den erhaltenen Buchstaben hätte aber nur Genie schließen können, dass dort einst ‚Reichsfernmeldestelle – Außenposten Glinne‘ gestanden hatte. Faidias musste kein Genie sein, er wusste welche Stelle er angenommen hatte, auch wenn er sich gerade nicht mehr ganz sicher war, ob er wusste, was das bedeutete.
Taloniris hielt ihm einen Schlüsselbund entgegen: „Der, ähm, gehört dann wohl Ihnen.“ Faidias wollte schon nach dem kleinen Stempel in seiner Tasche greifen, um den Empfang zu quittieren, aber Taloniris machte keine Anstalten irgendeine Art von Übergabeformular zu zücken und fuhr fort: „Also, ähm, meine Frau hat ordentlich sauber gemacht und, ähm, wir haben den Kälteschrank schon etwas befüllt und für ein paar Vorräte gesorgt. Ähm, ich schicke ihnen morgen meine Frau oder meinen Sohn vorbei, ähm, die bringen Ihnen dann was Warmes. Ich, ähm, versuche täglich, oder, ähm, zumindest ein über den andren Tag bei Ihnen vorbeizukommen. Ähm, auf einen Tee, ähm oder ein Bier, ähm Sie wissen schon, damit sie nicht, ähm, also hier draußen kann es einsam sein. Sie können, ähm, ja auch ins Wirtshaus kommen, ähm, abends ist da immer, ähm, was los.“
Taloniris half ihm noch die Taschen abzuladen, abermals mit schmerzhaftem Lächeln im Gesicht, doch Faidias wurde das Gefühl nicht los, dass die zusammengekniffenen Augen immer wieder an ihm vorbei in den Wald spähten. Reiß dich zusammen, dachte Faidias, dein Vorgänger hat es hier neun Jahre ausgehalten, bevor er wahnsinnig wurde, du bist nicht einmal neun Stunden hier!
Faidias fand den Außenposten in einem desolaten Zustand vor. Sein Vorgänger hatte ganze Arbeit geleistet und in dem Wahnsinn, der ihn befallen hatte, einen Großteil der technischen Anlagen zerschlagen. Taloniris' Frau hatte jedoch auch ganze Arbeit geleistet und beim Putzen viele Teile einfach entsorgt. Hoffentlich lagen sie noch im Müll, denn wenn er erst Ersatz beschaffen musste – Nein, daran wollte er gar nicht denken. Er richtete sich nur notdürftig ein und begann gleich mit einer Bestandsaufnahme und ersten Reparaturen.
Die folgenden Tage waren anstrengend, nicht unbedingt körperlich, aber das ständige Puzzeln und verschrauben der Feinmechaniken ermatteten ihn. Hätte man ihn gefragt, er hätte nicht geleugnet, dass ihm dieses Tausendteile-Puzzle Spaß machte, doch abends lag er wie eine leere Hülle in dem alten Ohrensessel und ließ sich von der mitgebrachten Musik berieseln. So kam es, dass er des Tags oft versunken in der Arbeit war und gar nicht mitbekam, wenn ihm das warme Essen gebracht wurde und er es erst Stunden später vor der Tür stehend fand, wenn der primitive Hitzezauber bereits abgeklungen und das Essen kalt geworden war. Und zum Abend hin war er so in sich versunken, dass draußen Krieg hätte herrschen können, ohne dass er es mitbekäme – und erst recht keinen Taloniris, der an die Türe klopft. So schottete er sich selbst von menschlichen Kontakten ab, ohne groß darum zu trauern, auch wenn er in manchen Momenten ein schlechtes Gewissen in sich aufsteigen fühlte. Er bekam jedenfalls nicht mehr mit, dass Taloniris nach einigen Tagen die abendlichen Besuche auf- und sich damit zufrieden gab, dass die geleerten Speisedosen, die seine Frau täglich gegen gefüllte austauschte, schon ein hinreichendes Zeichen dafür waren, dass es Faidias gut ging; oder zumindest noch am Leben war. Im Wirtshaus kehrte der neue Fernmelder in diesen Tagen auch nie ein, denn die anderthalb Stunden Fußmarsch waren einfach eine zu gewaltige Hürde.
Nach fast zwei Wochen waren die Reparaturen endlich beendet, die notwendigen Zauber gesprochen und der neue Maschinengeist in die Anlage hineinbeschworen. Da außerdem noch sämtliche Vorräte aufgebraucht waren und er die letzten Tage bereits nur noch von der Essenslieferung gelebt hatte, beschloss Faidias sich auf einen Fußmarsch ins Dorf zu begeben. Der Maschinengeist würde ohnehin für den Betrieb sorgen, sobald er sich mit der Anlage vertraut gemacht hatte und brauchte sein Zutun nicht; ja, es war sogar unerwünscht. Faidias war dafür da die mechanischen Bestandteile der Anlage zu warten und pflegen, sowie die Zauber, die für den Betrieb wichtig waren, regelmäßig zu erneuern, für den ganzen Rest war der Geist zuständig, den er mit der Formel des Reichsministeriums für Kommunikation beschworen hatte. Obwohl Faidias nicht wusste, welche Kommunikation genau über diesen Außenposten lief, wusste er sehr wohl, dass die eigentlich überschaubare Aufgabe sehr gut bezahlt wurde. Er hatte auch am Rande mitbekommen, dass der plötzlich Ausfall des Außenpostens für einigen Ärger mit dem Königlichen Kriegsrat gesorgt hatte, weshalb er vermutete, dass die Kommunikation vielleicht militärisch war. Möglicherweise würde er irgendwann in Zukunft etwas mehr vom Maschinengeist erfahren. Wie er in seiner Ausbildung bereits erlebt hatte, konnten diese nämlich ganz schön geschwätzig werden, wenn sie eine gewisse Zeit ihren Arbeiten nachgegangen waren.
Der Weg zu Fuß die Straße entlang war wesentlich angenehmer als die Fahrt auf Taloniris' Wagen. Bewegung und frische Luft taten ihm gut und besonders die braungelbe Umgebung auf dem ersten Wegstück wirkten wie Balsam auf seiner von der ganzen Zauberei geschundenen Seele. Das Tal wirkte ziemlich urtümlich, nur das Dorf Glinne wirkte inmitten der oft noch bewaldeten Landschaft wie ein Fremdkörper, wie eine verderbte Beule.
Im Dorf herrschte auch an diesem Tag kein wirkliches Leben, auch wenn er glaubte von Augen hinter den matten, schmutzigen Fensterscheiben beobachtet zu werden. Der einzige Laden des Ortes hatte tatsächlich geöffnet, aber kaum etwas von dem, was Faidias gerne gekauft hätte. Er erwarb einige Lebensmittelkonserven und bat den Ladenbesitzer, einen mürrischen, hageren Kerl, ihm einige weitere Dinge zu bestellen. Obwohl dieser das auf einem Wachstäfelchen notierte, glaube Faidias der Miene des Mannes zu entnehmen, dass er diese Dinge nicht bestellen würde. Überhaupt war dieser für einen Kaufmann sehr wortkarg und wenig entgegenkommend; in Pellas hätte er so nicht arbeiten können. Bevor er sich mit dem schwerbepackten Rucksack auf den Heimweg machen wollte, suchte er noch das Wirtshaus auf. Er hatte Hunger. Es überraschte ihn nicht, dass das Wirtshaus von innen noch weniger einladend war, als die bröckelige Fassade bereits andeutete. Es war dunkel und von einer stickigen Luft erfüllt, die nach Alkohol, Qualm und Schweiß roch. Im Halbschatten der Tische saßen einige Glinner, die kein Wort an ihn verschwendeten und keinen Blickkontakt suchten. Doch Faidias spürte ihre Blicke auf ihm, sobald er sich von ihnen abwendete. Die Kellnerin war nicht gesprächiger. Als er nach der Speisenkarte fragte, raunte sie nur: „Gibt heut‘ ‘nen Eintopf.“
Der Eintopf war undefinierbar, aber gut gewürzt und warm. Er aß davon, auch wenn sein Hunger durch die Atmosphäre bereits verflogen war. Ich will ja nicht unhöflich wirken. So schnell wie möglich verabschiedete er sich und gab der Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld.
Auf dem Heimweg beschloss er, das Dorf nur noch aufzusuchen, wenn es unbedingt notwendig war. Heimweg. Bin ich schon soweit, es Heim zu nennen?
In den folgenden Tagen begann er damit den umliegenden Wald mit Spaziergängen zu erkunden, um dem immer trister werdenden Alltag im Außenposten zu entgehen. Der Wald war dicht und urtümlich, oft raschelten irgendwelche Tiere im Unterholz oder den Wipfeln, auch wenn er nie ines zu Gesicht bekam. Eigentlich war Faidias nie ein Spaziergänger gewesen, doch Tag um Tag wurden seine Streifzüge länger und ausgiebiger. Er erfreute sich am Anblick der herbstlichen Pflanzen, auch wenn sein botanisches Wissen nicht einmal ausreichte um die gängigen Baumarten von einander zu unterscheiden.
Am vierten Tag entdeckte er im Wald einen alten Zaun, kaum besser gepflegt als jener des Außenpostens. Neugierig schritt er ihn entlang und entdeckte ein kleines Haus auf dem umzäunten Gelände. Vermutlich eines der außenliegenden „Gehöfte“. Es wirkte verlassen, aber so wirkte auch Glinne. An den darauffolgenden Tagen führte ihn sein Weg immer wieder in diese Richtung. Ob irgendwelche Änderungen preisgaben, dass das Haus bewohnt war? Ob er insgeheim hoffte einen Schwatz mit den Nachbarn halten zu können?
Die Tage wurden immer kürzer, während es auf den Winter zu ging und im Tal wurde es schnell dunkel, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwand. Er fühlte sich aber zunehmend sicher genug, um auch im Licht einer kleinen Lichtkugel durch den Wald zu spazieren. Manchmal brannte im Nachbarhaus sogar Licht – doch er traute sich nicht zum Tor zu gehen und zu läuten.
So vergingen die Tage und aus den Expeditionen ins Unbekannte wurde eine weitere Routine. Bis zu dem Tag, an dem er die Gestalt bemerkte, die ihn aus einem Fenster des Hauses bei seinen Spaziergängen am Zaun beobachtete. Eines Tages stand die Gestalt dann plötzlich am Zaun. Ein junger Mann, kaum älter als er selbst. Er winkte ihn herbei und Faidias folgte der Einladung. Er freute sich sogar, mit einem Menschen sprechen zu können, nach all den Gesprächen mit dem Maschinengeist.
„Hey“, berüßte ihn der junge Mann.
„Hallo, ich bin Faidias, der neue Fernmelder“
„Ich weiß. Ich bin Palenas.“
Dieser eher unbeholfene Anfang war der Auftakt von so etwas wie Freundschaft. An allen folgenden Tagen trafen die beiden sich am Zaun und plauderten. Palenas lebte allein mit seinem kranken Vater in dem Haus, erzählte, dass dies auch der Grund sei, warum er noch hier sei, während die anderen jungen Leute Glinne längst den Rücken gekehrt hatten. Mit den Glinnern hatte auch er kaum zu tun. Faidias erzählte ihm von Pellas und der weiten Welt. Gerne hätte er Palenas zu sich eingeladen, doch der wollte seinen Vater nicht zulange allein lassen und sein kranker Vater war auch der Grund, aus dem er Faidias nicht zu sich ins Haus bat. Als der Winter Einzug hielt, saßen die beiden zusammen auf der Veranda des kleinen Hauses. Die Gespräche taten Faidias unglaublich gut, er begann so etwas wie Zuneigung zu Palenas zu fühlen, fragte sich, ob er gar verliebt sei.
Ein schwerer Wintersturm wütete drei Tage und Nächte im Tal und zwangen Faidias im Haus zu bleiben. Der Wind heulte fürchterlich und durch die warme Raumluft zogen sich Fäden eisiger Kälte. Draußen wechselte das weiß-graue Gestöber des Tages mit dem weiß-schwarzen Gestöber der Nacht. Er fühlte sich einsam und ertappte sich immer häufiger bei dem Wunsch, Palenas wäre bei ihm.
Als der Sturm endlich abgeklungen war, stampfte er so gleich durch den verschneiten Wald zu Palenas' Haus. Dort angekommen erstarrte er: Der Sturm hatte das Dach zum Einsturz gebracht. Nachdem die aufwallende Panik seine Glieder aufgetaut hatte, stürmte er zu der verschneiten Ruine und begann unbeholfen nach Palenas und seinem Vater zu suchen. Doch er kam nicht weit. Fand nicht. Panik und Verzweiflung trugen ihn durch den Schnee nach Glinne. Er rief, schrie und klopfte an alle Türen. Dann stürzte er ins Wirtshaus.
„Ich brauche Hilfe! Das der Sturm hat das Haus von Palenas und seinem Vater zerstört. Wir müssen schnell dorthin, vielleicht liegen sie noch unter den Trümmern begraben“
„Wem?“, fragte ein mürrischer Glinner.
„Palenas. Er wohnt in dem Haus nur knapp eine Meile vom Außenposten entfernt“
„Ne“, antwortete der Glinner, „bei dir wohnt keiner in der Nähe.“
Die anderen stimmten ihm murmelnd zu.
Ein Alter räusperte sich: „Palenas? Den und seinen Vater hat‘s doch während des Krieges erwischt. Sind beide an der Lungenseuche gestorben.“
Am Ende hab ich mir schon gedacht, dass irgendwas mit Palenas ist! Irgendein Grund, weshalb er nicht will, dass Faidias ins Haus kommt. Nur was es tatsächlich war, das ist erst am Ende gekommen! Die Geschichte ist gut erzählt!
@DrZalmat Deine Geschichte in Tagebuchform ist toll ... der Inhalt ... eher weniger: Aber dadurch passt er zum Grauen natürlich sehr gut Verstehe ich die Tagebucheinträge richtig, dass der Doktor eine Frankenstein ist? Man könnte diese Geschichte auch im Spannungsfeld zwischen Sterbehilfe und Lebenserhaltung lesen. Welches Lied hat dich dazu inspiriert?
Zitat von Nharun im Beitrag #19Verstehe ich die Tagebucheinträge richtig, dass der Doktor eine Frankenstein ist?
Nein er ist kein Frankenstein. Noch lebt seine Frau. Aber wer weiß, vielleicht in ein paar Monaten...
Zitat von Nharun im Beitrag #19Man könnte diese Geschichte auch im Spannungsfeld zwischen Sterbehilfe und Lebenserhaltung lesen.
Genau. Was ist genug, was ist zu viel. Und was ist mit dem Verstand der Frau, gefangen in einem sterbenden Körper, unfähig zu kommunizieren oder irgendwas zu machen. Das ist ein wenig eine Angst von mir, als Gemüse an Maschinen zu vegetieren aber der Verstand arbeitet noch... heutzutage gilt ja quasi genauso am Leben halten unter allen Umständen
Zitat von Nharun im Beitrag #19Welches Lied hat dich dazu inspiriert?
The Doctors' Wife von Clockwork Quartet. Ein interessantes Lied wo der Rhythmus nicht von einem Schlagzeug sondern von dem Klappern einer Schreibmaschine vorgegeben wird
Deine Geschichte ist echt toll Nharun und auch nicht zu lang. Sind die Beschreibungen von Lovecraft inspiriert? Dieser Fokus auf Verfall und Primitivität des Ländlichen ist recht deutlich...
*Auf Lovecrafts gesammelte Werke schiel* Nein, noch nie von gehört Doch, ich liebe Lovecrafts Geschichten und lasse mich von ihnen immer gerne inspirieren.
So, zwischen Aufwachen und Aufstehen gelesen und jetzt wird kommentiert. Ja, man merkt die Lovecraft-Einflüsse, es ist aber dann doch etwas eigenes, und auch wenn es jetzt nicht sooo unheimlich ist, ist es eine gute Geschichte und vor allem bleiben, was ich sehr gut finde in diesem Genre, Fragen offen, z.B. warum genau Faidias' Vorgänger dem Wahnsinn verfiel.
Eine tolle Geschichte @Nharun und ich musste auch gleich zu Anfang bei der Beschreibung des Ortes an Lovecraft denken. Ich finde die Geschichte nicht zu lang, eher im Gegenteil - am Höhepunkt könnte sie mMn noch etwas ausführlicher sein. Trotzdem finde ich sie sehr gelungen! Ein dickes Lobs von mir!
Der Regen wurde immer stärker und mit ihm auch Laines Überzeugung, Dizarudas nicht mehr vor Einbruch der Nacht erreichen zu können. Laine schaute noch einmal zu den Berggipfeln, hinter denen gerade die Sonne zu versinken begann. Sie seufzte und stapfte dann weiter Das Licht der untergehenden Sonne ließ die dunklen Wolken so aussehen, als wären sie mit dem Blut von Himmelsriesen besprent und das Grollen vom Donner war der Schlachtenlärm. Laine beschleunigte ihre Schritte, doch der schlammige Boden der Straße umschloss ihre Stiefel und beinahe hätte sie einen von ihnen verloren und wäre gestürzt. Sie fluchte und versuchte dann, sie fester zu verschnüren, wobei ihr die Kapuze vor die Augen rutschte. Nein, es war ganz und gar nicht ihr Tag.
Je dunkler es wurde und je weiter die Nacht voranschritt, desto stärker prasselte der Regen hernieder und der Sturm schüttelte die Fichten so, dass ihr Ächzen Laine ernsthaft mit den Gedanken spielen ließ, die Straße zu verlassen und sich lieber auf das freie Feld zu begeben, das zu ihrer rechten lag. Als ein Blitz jedoch jene Ebene für einen Augenblick in gleißendes Licht tauchte, verwarf Laine diesen Gedanken und fast hätte sie laut aufgeschrien, als sie dort in einigen hundert Fuß Entfernung eine Kreatur sah, die sich an dem Kadaver eines Hirsches labte und auf eine verstörende Weise viel menschenähnlicher als jedes Raubtier und viel raubtierhafter als jeder Mensch war. Sie stolperte zurück und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie in den Schlamm fiel. Erneut grollte der Donner und ihr pochendes Herz schien er schier die Brust zu zerschlagen, als sie nun auch noch Schritte hörte, die sich ihr näherten. Flatsch. Flatsch. Flatsch. Sie griff unter ihren Umhang und fingerte nach dem Griff ihres Dolches wohl wissend, dass er ihr keine Hilfe gegen eine solche Bestie sein würde. »Solltest hier nicht nachts herumgeistern!« Die tiefe Stimme war ruppig, aber in ihr lag keine Drohung, keine Bosheit, und dass es überhaupt die Stimme eines Menschen war, gab Laine das Gefühl, als löse sich ein Knoten in ihren Eingeweiden. »Schon gar nicht in so einer.« Mit der Hand am Dolch rappelte Laine sich auf und drehte sich dann zu dem Mann um, der sie angesprochen hatte. Der Hüne hatte einen schwarzen langen Bart und ebenso schwarze Augen, die unter seiner Kapuze hervorschielten. In seiner rechten Hand hatte er einen knorrigen Wanderstab, in seiner linken eine Laterne, welche bei jeder stärkeren Windböe etwas wackelte und flackerte. »Da draußen …«, sagte Laine und schaute zu dem Feld, das jetzt wieder in Dunkelheit lag. »Da ist nichts, was dich interessieren sollte«, sagte der Mann schroff. »Kann aber sein, dass das, was da ist, sich für dich interessiert. Also würde ich vorschlagen, dass du da aus dem Schlamm aufstehst und mitkommst. Meine Hütte ist ganz in der Nähe.« Er deutete mit der Laterne vage in eine Richtung. Laine zögerte einen Augenblick. Es war sicherlich nicht die weiseste Entscheidung, einem wildfremden Einsiedler nachts in seine Hütte zu folgen. Andererseits war es bestimmt nicht weniger närrisch, in eben dieser Nacht und bei dem, was dort lauerte, draußen zu bleiben.
Sie folgte dem Mann, der sie mindest um drei Fuß überragte, die Straße entlang und dann einen kleinen Pfad zu einer Hütte hinauf. Als sie sich der Tür näherten, begann drinnen ein Hund zu bellen, der, wie es klang, zur Größe seines Herrn passte. Laine blieb instinktiv stehen, aber der Mann, der sich ihr als Raidras vorgestellt hatte, lachte nur. »Keine Angst, ist ein guter Junge«, sagte er. »Ruhig, Trak, Väterchen ist wieder da!« Er öffnete die Tür, hinter der schnaufend und schnaubend ein Hund von der Größe eines Kalbes mit schwarzem zottigen Fell wartete und wild mit dem Schwanz wedelte. Er legte sich mit dem Vorderkörper auf den Boden und zeigte seine kräftigen und langen Reißzähne, bevor er wieder aufsprang und sich dann Laine zuwandte, die zwar merkte, dass es vermutlich ein gutes Tier war, ihm aber nicht ganz traute. »Der tut nichts«, sagte Raidras, schob sie ins Innere der Hütte, die auch von innen grob und zweckmäßig war und zu ihrem Besitzer passte, und verriegelte die Tür mit einem Balken. Danach zog er sich seinen Mantel aus und hängte ihn neben die Tür. Unter dem Mantel, zum Schutz vor dem Regen, trug er einen Kurzbogen und einen Köcher, die er nun neben ein Fass stellte. Danach nahm er Laines Umhang entgegen, um ihn über einen der drei recht unterschiedlichen und zweifellos selbstgezimmerten Stühle zu hängen, den er etwas näher an den aus groben Steinen gebauten Kamin zum Trocknen zu stellen. »Setz dich«, wies er Laine an. »Ich wollte grade einen Eintopf von heute Mittag übers Feuer hängen. Hast sicherlich Hunger, mmh?« Laine, die der Aufforderung nachkam, nickte. »Das wäre nett«, sagte sie, als der Hunger langsam zurückkam, den sie vor Schreck über das, was sie dort auf der Wiese gesehen hatte, ganz vergessen hatte. »Was macht eine junge Dame wie du mitten in der Nacht auf der Straße so einsam und allein?«, fragte Raidras und beäugte sie von oben bis unten, was ihr Unbehagen bereitete. »Ich bin auf dem Weg von Sermasein nach Dizarudas«, sagte sie. »Wartet dort jemand auf dich?« Laine konnte den Gesichtsausdruck des Mannes nun nicht erkennen, da dieser sich nun dem Kochtopf, der über dem Feuer hing, zugewandt hatte. Seine Frage machte sie nervös. »Ja«, sagte sie. »Mein Bruder. Er ist einer der Männer des Fürsten. Vermutlich fragt er sich schon, wo ich bleibe und mich würde nicht wundern, wenn schon morgen Soldaten ausgesandt werden, mich zu suchen. Ich bin nämlich etwas spät dran, und er macht sich bestimmt schon sorgen.« Das war vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen. Ja, Diegyl war ein Mann des Fürsten – allerdings ein recht unbedeutender, und wenn sie jemand suchen käme, dann wäre es vermutlich nur ihr Bruder alleine. »Ach ist das so?« »Ja.« »Mmh.« Laine legte eine Hand auf den Knauf ihres Dolches, doch konnte das kühle Metall sie kaum beruhigen. Wenn dieser Raidras sich als weniger ehrenvoll erweisen sollte, so würde sie sich vielleicht gegen ihn alleine mit Müh und Not wehren können, aber er war eben nicht alleine. Sie schaute zu Trak, dem viel zu groß geratenem Hund, der gerade an einem Knochen herumkaute und dabei wieder seine Reißzähne entblößte, die lang waren wie Laines kleine Finger. Als sie wieder zu Raidras schaute, hielt dieser zwei Holzschüsseln mit dampfendem Eintopf in Händen und stellte eine vor Laine ab, bevor er sich mit seiner Schüssel auf den übriggebliebenen Stuhl setzte. »Wir danken den Sentarim dafür, dass sie uns diese Welt mit ihren Gaben geschenkt haben, an welchen wir uns erfreuen können und die uns nähren«, sagte Raidras und tippte sich an die Brust und die Stirn, bevor er zu essen begann. Laine tat es ihm gleich und eine ganze Weile aßen sie schweigend. »Vielleicht hast du ja Glück, Mädchen, und dein Bruder steht hier morgen mit einem Pferd vor der Tür und nimmt dich mit«, sagte Raidras schließlich. »Dann gereicht dir deine Verspätung, von der du sprachst, zum Vorteil und du musst den restlichen Weg nicht mehr laufen.« »Wie weit ist es denn noch bis Dizarudas?«, fragte sie. »Mmh.« Raidras zuckte mit den Schultern. »Zehn Meilen? Ich weiß es nicht recht. Ich war lange nicht mehr dort.« »Zehn Meilen noch! Ich dachte, ich wäre schon näher.« »Da tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen«, sagte der Hüne. »Bis zur Stadt ist es noch weit. Es kommt einem sogar noch weiter vor, als es eigentlich ist. Hier bist du in vollkommener Wildnis. Nur selten kommen Leute hier entlang. Die meisten nehmen die Straße durch Kiridun.« »Die nahm ich nicht, weil sie länger ist«, sagte Laine. »Das stimmt«, sagte Raidras, nahm einen weiteren Löffel in den Mund und kaute, während er Laine musterte. »Doch wie ich schon sagte; die meisten nehmen sie. Es ist besser, als diese Wildnis hier.« »Wegen dem, was …«, Laine zögerte. »Dem, was hier lebt?« »Was lebt hier denn?«, fragte Raidras und grinste dann. »Ich lebe hier.« »Ungeheuer«, flüsterte Laine fast, da es ihr etwas lächerlich vorkam, von Ungeheuern zu sprechen, denn sie war schließlich mit ihren neunzehn Jahren kein kleines Mädchen mehr. »Du solltest vielleicht nicht darüber sprechen«, sagte der Einsiedler und grinste immer noch. »Sonst könntest du es anlocken.« »Was ist es?« Nun schwand das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes. »Es ist etwas, dem du nicht begegnen möchtest. Etwas Altes, das unsere Ahnen fürchteten und ihm Opfer brachten. Du kannst froh sein, dass ich dich fand und mitnahm. Hier bist du sicher und tagsüber wirst du sicher weiterreisen können.« Er knurrte mürrisch. »Nein, vermutlich hast du dir nur etwas eingebildet. Dort draußen ist nichts. Nun iss, bevor es kalt wird.« Laine aß weiter, obwohl sie Raidras gerne mit weiteren Fragen über diese Kreatur dort draußen befragt hätte, dieses Wesen, das wie eine Mischung aus Bär, Wolf und Mensch ausgesehen hatte im grellen Licht des Blitzes, aber sie ahnte, dass ihr Gastgeber nicht besonders erpicht darauf war, diese Fragen zu beantworten. »Ich hätte den Hund mitgenommen, wenn ich nachts rausgegangen wäre«, sagte Laine schließlich und schaute zu Trak, der nun schlafend vor dem Kamin lag und so friedlich, wie ein kleiner Schoßhund aussah. »Das ist manchmal nicht so klug«, sagte Raidras der seine nun leere Schüssel abstellte. »Manche Raubtiere werden vom Geruch provoziert und angelockt.« »Warum warst du überhaupt bei diesem Wetter nachts draußen?«, fragte Laine. »Ich war jagen«, sagte Raidras und deutete auf den Bogen. »Mitten in der Nacht und bei diesem Sturm?«, fragte Laine, der diese Antwort viel zu viele Fragen aufwarf, zumal es dem Einsiedler auch im Moment nicht so sehr an Nahrung zu fehlen schien, dass er zu einer nächtlichen Pirsch gezwungen wäre. »Nützt ja nichts.« »Die Tiere hatten dann heute wohl Glück.« Raidras zuckte mit den Schultern und stand dann auf, um zwei Becher von einem Regal zu holen und aus einem kleinen Fass zu füllen. Er reichte einen von ihnen Laine und diese nippte daran. Es war ein recht starkes und bitteres Bier und sie verzog das Gesicht, was den Einsiedler zum Lachen brachte. »Ich bin kein besonders guter Bogenschütze«, sagte Raidras, nachdem er einen großen Schluck genommen und sich den Schaum vom Mund abgewischt hatte. »Fallen liegen mir eher. Darum solltest du auch nicht unachtsam durch diesen Wald hier tappen.« »Gut zu wissen«, sagte Laine und nahm aus Höflichkeit noch einen kleinen Schluck. »Fallen sind mir lieber, weil ich nicht gerne töte«, erklärte Raidras. »Es ist mir zuwider. Das Leben ist etwas Heiliges, weißt du? Selbst das von Tieren. Es steht in den heiligen Schriften, weißt du?« Laine nickte. »Ich glaube, ich könnte ein Tier gar nicht töten«, sagte sie. »Auch nicht mit einer Falle.« »Na dann tötest doch nicht du es, sondern die Falle«, sagte Raidras und zuckte mit den Schultern. »Naja, das ist irgendwie so, wie wenn man sagen würde, nicht man selbst habe das Tier getötet, sondern der Bogen, mit dem man den Pfeil verschoss«, sagte Laine. »Die Falle ist nur ein Werkzeug dazu. Eigentlich gar nicht anders als ein Bogen oder ein Speer oder sonst irgendeine andere Waffe. Der Unterschied ist nur, dass es für den Jäger bequemer ist.« Raidras schaute sie lange an, dann leerte er seinen Becher in einem Zug und stand auf, um sich einen zweiten einzuschenken. Sein Gesichtsausdruck war nun sehr ernst. »Meinst du das?«, fragte er und zupfte sich am Bart. »Ja, doch«, sagte Laine und zuckte mit den Schultern. »Mmh.« Raidras schien nachzudenken, während draußen der Sturm heulte. Zumindest hatten das Gewitter und der Regen jedoch inzwischen aufgehört. »Das dachte ich mir schon fast«, sagte er nach einiger Zeit und nahm einen weiteren kräftigen Schluck. »Wenn du mir also ausversehen in eine der Fallen spazieren wärest, dann wäre ich ein Mörder?« »Nein, das nun auch wieder nicht«, sagte Laine. »Das wäre dann ein Unfall, denn du hast die Falle nicht gezielt dafür aufgestellt, mich damit zu erwischen.« Raidras überlegte und lachte dann. »Und wenn ich eine Falle aufstelle, um ein Reh zu erlegen, aber eine Ziege hineinläuft, dann ist es ein Unfall, wenn aber das Reh hineinläuft, dann ein Mord?« Laine grinste und nahm einen weiteren Schluck von dem Bier, obwohl es nicht besonders gut schmeckte. »Ich glaube, in beiden Fällen kann man es nicht als einen Mord bezeichnen und ein Unfall ist es auch nicht.« »Warum ist es denn kein Unfall, wenn eine Ziege reinläuft, aber ein Mensch schon?« »Weil du nicht wolltest, dass ein Mensch in die Falle geht.« Raidras lachte, leerte den Krug und füllte ihn erneut nach. »Ich wollte aber auch nicht, dass eine Ziege hineintappt. Wo ist also der Unterschied?« »Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier jemanden für tiefsinnige Gespräche finde«, sagte Laine und lachte. »Ich meine das völlig ernst«, sagte Raidras. »Wo ist der Unterschied?« »Vielleicht, dass du die Ziege essen kannst. Damit ist es dann nicht das gewünschte Ergebnis, aber immer noch in Ordnung.« »Einen Menschen kann man auch essen.« Hätte Raidras gelacht oder gezwinkert, dann hätte auch Laine über diese Bemerkung gelacht, doch der Einsiedler schaute sie völlig ernst an und sie fühlte, wie sie eine Gänsehaut bekam. »Ich glaube, das ist für das Seelenheil nicht gerade … zuträglich …« Raidras nickte und trank mehr von seinem Bier. »Es wäre eine Sünde«, sagte er. »Und die Angst vor der ewigen Bestrafung im Jenseits hält uns Menschen von den schrecklichsten Taten ab.« »Ja«, sagte Laine und schob ihren eigenen Bierkrug etwas von sich weg, umklammerte aber dessen Griff weiterhin. »Wenn es die Sentarim nicht geben würde, könnten wir tun und lassen, was wir wollen, wenn wir unbeobachtet sind«, sagte Raidras, und obwohl seine Augen auf Laine gerichtet waren, schien er durch sie hindurch zu schauen. Er lächelte. »Gerade ich. Hier kommt nie jemand her.« Laine fühlte, wie ihr Herz etwas schneller zu schlagen begann. Ihr gefiel nicht, wohin die Gedanken dieses Mannes führten, der sie in seine Hütte mitgenommen hatte und nun einen Humpen Bier nach dem anderen leerte. »Wenn ich dich jetzt und hier töten oder gewaltsam nehmen würde, dann wüsste ich, dass ich für alle Ewigkeit dafür im Jenseits leiden müsste.« »Ja, das müsstest du«, sagte Laine und legte eine leicht zitternde Hand an den Griff ihres Dolches. »Wir leben furchtsam unter dem wachsamen Blick der Sentarim, der edlen Diener Gottes.« »Es regnet nicht mehr«, sagte Laine. »Ich glaube, ich könnte mich jetzt auf den Weg machen und wäre dann bestimmt rechtzeitig zum Hahnenschrei da.« »Ja, das könntest du«, sagte Raidras. »Nach Dizarudas.« Er trank einen Schluck. »Weißt du, was dort einst geschah?« »Was meinst du?« »Du kennst den Tempel dort, nicht? Den großen Tempel des Sentar Pejarur, des Herrn des Feuers.« »Ja.« »Das war nicht immer ein Tempel Pejarurs. Einst war es ein Tempel des Gottes Arinko in heidnischer Zeit. In ihm brannte das ewige Feuer und man sagte, wenn es ausginge, höre die Welt auf zu existieren«, sagte Raidras. »Arinko war der höchste Gott unserer Vorfahren, der einzige Gott, den sie verehrten. Er wachte über sie. Beschützte und bestrafte sie. Dann kam Erestigon und brachte uns den Sentarismus. Weißt du, was er tat?« Laine nickte. Sie kannte die Geschichte. Jeder in Ladorien kannte sie. »Erestigon erklärte, dass Arinko kein Gott sei. Dass Arinko nur ein anderer Name für Pejarur sei, ein verzehrtes Abbild des Sentar. Und er löschte das ewige Feuer und … es geschah nichts. Die Welt drehte sich weiter.« Raidras leerte seinen Krug, füllte sich aber nichts nach. »Der ganze Glaube unserer Vorfahren war Quatsch. Kein Gott hatte über sie gewacht.« »Aber nun wissen wir, wer über uns wacht«, sagte Laine. »Wir wissen jetzt, dass die Sentarim auf uns aufpassen und die schlechten Menschen bestrafen. Sie sehen alles.« Raidras lachte auf, was seinen Hund weckte. »Wir wissen genauso viel über Götter oder Sentarim, wie unsere Vorfahren. Warum sollten wir es besser wissen? Vielleicht passiert uns rein gar nichts, wenn wir unsere dunkelsten Wünsche erfüllen.« »Ich würde es nicht darauf ankommen lassen«, sagte Laine, und stand auf, wobei Trak sie mit seinen gelben Augen fixierte. »Nein, nein, du hast recht«, sagte Raidras. »Wenn ich dich töten würde – und das habe ich wirklich nicht vor, hübsches Mädchen, es ist nur ein Beispiel, ein Gedankenspiel –, dann besteht natürlich durchaus die Möglichkeit, dass ich dafür im Jenseits gefoltert werde von Cevarin höchstselbst. Unzählige Dinge kämen mir in den Sinn, die ich zu gerne einmal in meinem Leben tun würde, aber die Angst vor Bestrafung im Jenseits legt mir Ketten an. Was sind deine dunkelsten Wünsche, denen du frönen würdest, wenn du niemals eine Strafe zu erwarten hättest, Mädchen?« Er schaute sie mit seinen schwarzen Augen an, leckte sich über die Lippen und trank dann wieder einen Schluck aus seinem Krug. »Nein, ich werde ein guter Mann bleiben«, sagte er, doch dann verzog er das Gesicht und für einen Moment dachte Laine, er würde gleich in Tränen ausbrechen. »Ich würde ein guter Mann bleiben. Sag mir nochmal, Mädchen: Ist das Töten mit einer Falle wie das Töten mit einem Bogen?« »Ich …«, begann Laine, aber sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wusste nur, dass sie hier rauswollte. Sofort. »Für das Töten wird man gestraft, nicht?« »Ja, ohne Wenn und Aber«, sagte Laine und ging rückwärts langsam zur Tür. »Dieses verdammte Mädchen«, sagte Raidras und nun begann er, tatsächlich zu schluchzen. »Ich habe die Falle aufgestellt, ich bin schuld an dem, was geschah. Und die Sentarim werden mich dafür bestrafen. Es ist ganz gleich, wie gut ich nun versuche, zu sein.« Er stand auf. »Aber es befreit mich auch. Ich weiß, dass ich mein Leben im Jenseits verwirkt habe. Also kann ich nun im Diesseits alles tun, was ich will. Ich bin ein zum Tode Verurteilter, der keine härtere Strafe mehr zu fürchten braucht.« Laine wich zur Tür zurück und griff nach dem Balken. Trak richtete seinen Oberkörper auf und blickte zwischen ihr und seinem Herrn hin und her. Raidras näherte sich ihr taumelnd und der Hund begann zu knurren. Laine zog den Balken von der Tür weg, riss sie auf und rannte los in die Dunkelheit. »Bleib hier!«, schrie Raidras und sie hörte seine schweren Schritte hinter sich. Ihr Herz raste, als sie Trak bellen hörte, doch im nächsten Moment schrie Raidras auf und sie hörte ein Winseln. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und rannte einfach weiter, als sie etwas knacken hörte und Raidras’ Schreie zu einem Gurgeln wurden und plötzlich ganz abbrachen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und rannte weiter durch den dunklen Wald..
Sie wusste nicht, wie lange sie gelaufen war. Sie wusste nur, dass sie die Straße überquert hatte und auf das offene Feld gelaufen war, weil sie etwas hinter sich gehört hatte und einfach nur geradeaus geflohen war, ohne nachzudenken. Schließlich riss die Wolkendecke auf und der Vollmond warf sein Licht auf den vor ihr liegenden, halbgefressenen Hirsch. Sie stolperte über eine Erhebung im Boden und stürzte. Sie landete direkt vor dem Kadaver auf den Boden. Sie rappelte sich zu einer knienden Haltung auf, aber Seitenstiche fühlten sich wie von Messern an und sie bekam kaum noch Luft. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn und mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen. Sie schaute zum Hirsch und übergab sich. Beim zweiten Blick sah sie, dass zwischen den Schulterblättern des Hirsches ein Pfeil hervorragte.
@Elatan Brr, gruselig. Ich dachte mir schon, dass Raidras irgendeine Art von Monster ist. Aber mit der Diskussion über das Fallenstellen hast du mich ganz schön in die Irre geführt.
@Gerion Mir fiel gerade erst auf, dass ich zu deiner Geschichte gar nichts gesagt habe. Es ist ein gruseliges Tagebuch, vor allem für die Frau!
@Elatan Deine Geschichte ist sehr gut erzählt, die Anspannung ist beim Lesen geradezu spürbar und das Ende sehr gelungen! Ich finde es interessant, wie du es trotzdem noch, quasi als Bonus, schaffst Historisches und Philosophisches einzubauen, ohne dass es gezwungen oder aufgesetzt wirkt.
Leider fehlt mir die Zeit, die Geschichte zu überarbeiten, daher bekommt ihr jetzt nur die Rohfassung! Ich hoffe, es sind keine zu gravierenden Fehler drin.
Die Goliath
Die EPC Goliath brach 2921 zu einer Erkundungsmission in einen transleonidischen Sektor auf. Nachdem sie sich drei Jahre später nicht wie erwartet zurückmeldete, galt sie als vermisst.
Am 6. Juni 2926 wurde die EPC Goliath im System Kolima 336 aufgefunden. Nachdem alle Versuche, Kontakt aufzunehmen, scheiterten, wurde das Schiff schließlich geentert. Eine erste Durchsuchung ergab, dass niemand an Bord war. Das Equipment war jedoch vollzählig und Schäden waren bis auf die erwarteten Verfallserscheinungen nicht festzustellen.
Die Untersuchung zeigte, dass sämtliche Zugänge zum medizinischen Bereich zugeschweißt waren. Die Bergungstruppe durchbrach diese Sperre mit einigen Ladungen Thermit und fand den medizinischen Offizier Dr. Thomas Cruz vor. Dr. Cruz wirkte sehr verstört und war zunächst unkooperativ. Er wurde in Gewahrsam genommen und erlangte nach intensiver Behandlung seine Zurechnungsfähigkeit wieder.
Im folgenden finden sich einige Ausschnitte aus seiner Befragung, die zur Aufklärung des Schicksals der Goliath beigetragen haben.
Die Befragung wurde durchgeführt von Sgt. Hartmann.
Anmerkung: Dr. Cruz besteht darauf, sich nur in hell erleuchteten Räumen aufzuhalten und wirkt trotz angemessener Medikation immer noch paranoid.
Hartmann: Bitte geben Sie Name und Rang an für das Protokoll.
Cruz: Dr. Thomas Cruz, medizinischer Offizier des Erkundungsschiffes EPC Goliath.
H: Bitte erzählen Sie von Anfang an, was geschah.
C: Ich war als medizinischer Offizier auf der Goliath. Die Mission war, drei Jahre lang herumzufliegen und Sternsysteme zu kartografieren. Kapitän Handel hatte dafür zwei Navigatoren bekommen, Lt. Venn und Lt. Tessiar.
H: Erster und zweiter Navigator, fürs Protokoll.
C: Ja… Jedenfalls lief alles erst mal wie am Schnürchen. Die ersten sechs Monate kartografierten wir ein paar Systeme, legten Sternkarten und sonst passierte nicht viel. Ich glaube, alles fing an, als Venn zu mir kam und über Verdauungsbeschwerden klagte. Ich untersuchte sie und konnte nichts außergewöhnliches feststellen. Ich gab ihr ein paar Pillen, um den Magen zu beruhigen und schickte sie wieder weg.
Die D-Klasse war damals schon seit fast zwanzig Jahren im Dienst und niemand dachte sich mehr etwas besonderes dabei. Venn war fast schon so lange ein Navigator und nie irgendwie aufgefallen. Bis auf die Augen sah sie ganz normal aus, auch nicht besonders paranoid oder so. Es gingen sogar Gerüchte um, dass sie etwas mit Jax hatte.
H: Jax?
C: Lt. Jacques Tournier, der Ingenieur. Jedenfalls klagte sie weiter über Verdauungsbeschwerde, aber da war nichts. Dafür wurde Tessiar immer seltsamer. Irgendwann hörte er komplett auf, mit irgendwem zu reden, außer mit Venn. Ein unheimlicher Kerl.
Wir waren knapp neun Monate unterwegs, da verschwand Jax. Spurlos, einfach so.
H: Bitte erklären Sie, wie jemand auf einem Schiff wie der Goliath einfach verschwinden kann.
C: Ich weiß! So groß war das Schiff auch nicht! Aber er verschwand trotzdem! Natürlich gab's eine große Suchaktion, alles wurde umgekrempelt, aber er war einfach weg. Natürlich haben wir Tessiar verdächtigt, er war eben einfach komisch. Trotzdem redete er kein Wort. Handel ließ ihn schließlich in die Brigg werfen, hoffte wohl, dass er dann endlich reden würde.
Aber bevor's soweit war, tauchte Jax wieder auf, putzmunter übrigens. Ich hab ihn untersucht. Er hatte ein paar Kratzer im Nacken und einen Einstich wie von einer Kanüle. Die Instrumente waren aber alle vollzählig und es schien ihm gut zu gehen.
Wir waren jedenfalls alle heilfroh, dass er wieder auftauchte. Er behauptete, sich an nichts zu erinnern. Er wäre einfach irgendwann in einem der Wartungsschächte aufgewacht, ohne zu wissen, wie er da hin kam. Er war fünf Tage verschwunden gewesen und der Schacht war durchsucht worden. Er muss also vorher woanders gewesen sein.
Danach wurden die Dinge noch seltsamer. Jax verbrachte viel Zeit mit Venn und Tessiar. Die drei redeten miteinander und hörten auf, sobald sich jemand näherte. Es war unheimlich. Als würden sie eine Verschwörung planen.
Danach verschwanden immer mal wieder Leute. Peters, Odell, Ibrahim… Alle blieben ein paar Tage verschwunden und kamen dann mit denselben Verletzungen wieder. Und alle verhielten sich danach genauso seltsam wie Jax.
Erst dachte Handel, wir hätten irgendwo einen exotischen Parasiten aufgesammelt und er ließ das Schiff Stück für Stück dem Vakuum aussetzen, um alles zu töten, was kein Mensch war. Es brachte nichts. Inzwischen waren acht Personen verschwunden und wiedergekommen. Bei nur 40 Besatzungsmitgliedern ist das eine Menge. Und alle standen sie dann herum und glotzten einen an, so richtig unheimlich. Mit keinem konnte man mehr reden.
Handel und ich beschlossen, so schnell wie möglich in bewohnten Raum zurückzukehren. Wenn das irgendeine exotische Seuche war, wollten wir nicht allein sein.
Jedenfalls erklärte ich der Mannschaft, wie sie sich schützen sollten, so gut es eben ging. Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte, ich gab ihnen den üblichen Sermon: Hände waschen, Körperkontakt meiden, blabla.
Cardozo kam auf die Idee, die Infizierten zu isolieren. Raten Sie mal, wer als nächster verschwand.
H: Cardozo?
C: Richtig! Wenig später tauchte sie wieder auf und es war dasselbe wie bei den anderen. Inzwischen hatte es die halbe Mannschaft erwischt. Da hatten wir Kolima schon erreicht und es war seit Wochen das erste Mal, dass ich Venn zu Gesicht bekam. Sie sah schrecklich aus, ganz anders, als zu Anfang. Gebeugt und bucklig, als wäre sie um Jahrzehnte gealtert. Und das Gesicht…
[Cruz unterbricht sich und spricht erst nach einigen Momenten weiter]
Da war nichts menschliches mehr. Sie sah aus wie so ein Filmmonster, mehr wie ein Insekt als ein Mensch. Sie glotzte mich an, zischte… so richtig wie eine Schlange.
Danach fingen die anderen an, mich genauso anzusehen, wie vorher Cardozo… Da hat's mir gereicht. Ich hab mich in der Krankenstation eingeschlossen und keinen mehr reingelassen.
Wenn es geklopft hat, hab ich so getan, als wäre ich nicht da. Nicht mal für den Kapitän hab ich mir getraut, die Tür aufzumachen. Hab mich von Snacks und Lebensmittelkonzentraten ernährt. Sie wären erstaunt, was man in einer Krankenstation alles findet.
Ein paar mal sind wir in den Hyperraum gesprungen und wieder raus, nie für lange. Ich wusste nicht mal mehr, in welchem System wir waren. Irgendwann ging mir doch das Essen aus und ich musste raus. Ich packte mir eine Taschenlampe und ein paar Skalpelle als Waffen ein schlich mich mitten in der Nacht hinaus, um ein paar Kartons mit Lebensmitteln aus dem Frachtraum zu holen.
H: Was passierte dann?
C: Das ist ja das unheimlich, es war niemand da. Normalerweise merkt man auf so einem Schiff, dass da jemand lebt. Aber hier… es fühlte sich einfach leer an.
Jedenfalls holte ich mir ein paar Kartons Rationen. Und eine Waffe. Man, ich bin Arzt. Aber so fühlte mich einfach sicherer. Als ich zurückkehren wollte, lief ich Handel in die Arme. Sie können sich meine Erleichterung vorstellen, dass der Kapitän noch da war! Jedenfalls im ersten Moment. Im Dunkeln war es nicht so gut zu erkennen, aber irgendwas stimmte mit seinen Augen nicht, da bin ich mir im Nachhinein sicher.
H: Was geschah dann?
C: Erst einmal hat er mich beruhigt, dass ich mir keine Sorgen machen müsste, alles würde in Ordnung kommen. Ich schämte mich so, dass ich meine Mannschaft im Stich gelassen hatte, aber als er redete, dachte ich tatsächlich, dass alles wieder gut werden könnte.
„Es geht allen gut“, sagte er. „Ein paar sind schon fort.“
„Fort?“ fragte ich. „Wohin?“
Das wollte er aber nicht beantworten. Stattdessen brachte er mich zur Messe. Dort war es verdammt dunkel, obwohl ungefähr ein Dutzend Leute versammelt waren. Sie standen alle in einer Ecke zusammen, um irgendwas herum, was ich nicht sehen konnte. Mit meiner Taschenlampe konnte ich nicht richtig sehen, vielleicht lag es auch nur an den Schatten, aber die meisten sahen irgendwie… nicht richtig aus. Verzerrt. Krumm.
Jedenfalls sagte Handel wieder, es wären alle da. „Alle?“ fragte ich. „Das sind alle, die noch übrig sind?“
„Ja“, sagte er. „Du willst doch auch dazugehören.“ Dann stieß er mich nach vorn, in den Raum.
Die Leute gingen auseinander und ich konnte sehen, was sie versteckt hatten.
Es war Venn, oder das, was von ihr übrig war. Sie hockte am Boden, ganz nackt. Aufgebläht wie eine Wasserleiche, mit spindeldürren Armen und Beinen, wie eine Spinne.
[Cruz holt ein paar Mal tief Luft, bevor er weiterspricht]
Sie erinnern sich, ich erzählte ihnen von den mysteriösen Einstichen, die ich an den ersten Opfern fand. Nun, sie hatte… so eine Art Legestachel, zwischen den Beinen. So ein langes, spitzes Ding.
[Cruz zittert]
Damit hat sie die anderen gestochen, ich bin sicher.
Handel packte mich und zog mir den Rucksack herunter. Ein paar von den anderen kamen näher und ich konnte sie deutlicher sehen. Sie hatten… sie hatten alle diese seltsamen Hexenaugen.
[Cruz schließt die Augen und ringt sichtlich um Fassung]
H: Was geschah danach.
C: Ich weiß noch, dass ich nach der Waffe griff und einfach auf den Abzug drückte. Wieder und wieder, bis sie leer war. Ich weiß nicht, wen ich erwischt hab. Sie stürzten sich alle auf mich. Danach nahm ich das Skalpell und hab einfach um mich gestochen, auf Arme und Beine, bis ich los kam, raus aus der Messe und weg von dort.
Irgendwie hab ich's wohl bis zur Krankenstation geschafft und hab mich dort wieder verbarrikadiert. Ohne Essen natürlich. Ich hab mir die Notfallausrüstung geholt und alle Türen zugeschweißt, damit keiner mehr reinkommt.
Dann merkte ich, dass wir wieder in den Hyperraum sprangen. Ich weiß nicht, für wie lange. Irgendwann kam der Rücksprung. Bis dahin hatte ich nur noch Zuckerpillen und Leitungswasser. Ich musste also wieder raus.
Diesmal holte ich mir zuerst eine Waffe. Aber es war unnötig. Es war niemand mehr da. Niemand. Nicht einmal eine Leiche hatten sie zurückgelassen. Sie waren einfach… weg.
Anmerkung: Nach Cruz‘ Schätzungen ereigneten sich die Schießerei in der Messe ca. 1 Jahr nach dem Start der Goliath. Er überlebte demnach für fast vier Jahre allein auf dem Schiff. Die restliche Besatzung wurde nie gefunden.
@Elatan: Das ist dir jetzt wirklich gelungen! Besonders das Ende - den letzten Absatz - hab ich so nicht erwartet!
Zitat von Elatan im Beitrag #24Dieses verdammte Mädchen
Hat er mal ein Mädchen mit einer Falle getötet?
Zitat von Elatan im Beitrag #24als sie etwas knacken hörte und Raidras’ Schreie zu einem Gurgeln wurden und plötzlich ganz abbrachen
Ist er in seine eigene Falle gegangen?
~|~|~|
@Teja: So vermehren sich die Navigatoren also! Jetzt interessiert es mich aber schon, was es mit Tessiar auf sich hat. [Venn ist ja inzwischen selbsterklärend..] Und wohin die ganzen Leute verschwunden sind! Sind die etwa im Hyperraum ausgestiegen? Oder haben sie sich im ganzen Sektor verteilt?
@Teja: Urgh, das ist wirklich unheimlich. Ich glaube, ich würde in deiner Welt schön auf meinem Heimatplaneten bleiben und Raumschiffe tunlichst meiden.
Zitat von Chrontheon im Beitrag #28Hat er mal ein Mädchen mit einer Falle getötet?
Zitat von Elatan im Beitrag #24als sie etwas knacken hörte und Raidras’ Schreie zu einem Gurgeln wurden und plötzlich ganz abbrachen
Ist er in seine eigene Falle gegangen?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Da darf der Leser rätseln.
Zitat von Elatan im Beitrag #29@Teja: Urgh, das ist wirklich unheimlich. Ich glaube, ich würde in deiner Welt schön auf meinem Heimatplaneten bleiben und Raumschiffe tunlichst meiden.
Ich auch!
Zitat von Elatan im Beitrag #29Vielleicht, vielleicht auch nicht. Da darf der Leser rätseln.
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Halloween - Das Imaginarium des Grauens
30.10.2019 21:59 (zuletzt bearbeitet: 30.10.2019 22:49)
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Und ich finde, auch, wenn es nicht direkt ganz klassischer Horror ist, so passt es doch perfekt zu unserem kleinen Halloween-Special hier, denn für die Frau muss es der Horror sein und ein in den Wahnsinn abdriftender Arzt ist einfach ein idealer Protagonist für eine solche Geschichte. Sehr schön!
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Verstehe ich die Tagebucheinträge richtig, dass der Doktor eine Frankenstein ist? Man könnte diese Geschichte auch im Spannungsfeld zwischen Sterbehilfe und Lebenserhaltung lesen. Welches Lied hat dich dazu inspiriert?
