#1 [Silaris] Geschichtensammlung (Fern vom Schlachtfeld) von Amanita 04.01.2020 22:45

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Hallo in die Runde,

ich habe mir gedacht, ich mach zum neuen Jahr mal einen Thread für den einen oder anderen Einblick aus Silaris auf.
Die erste Kurzgeschichte gibt es auch schon im anderen Forum, aber da das mein Text ist, denke ich, dass das nicht dagegensprechen sollte. In der Wahlkampfshow wurde schon die Ermordung von General Cressidus angesprochen, hier ist das aus der Sicht eines (mehr oder weniger) Freundes geschildert. Und man erfährt auch einiges darüber, wie es in Arunien so zugeht.


Fern vom Schlachtfeld


Septimius Lebetinus klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad seines Usias. Vor ihm versuchte ein tessmarischer Gefahrguttransporter seit einer gefühlten Ewigkeit vergeblich einen anderen LKW zu überholen. Am liebsten hätte Septimius ihm durch das Betätigen der Hupe klargemacht, dass er Platz machen sollte, aber er hielt sich gerade noch davon ab. Der LKW hatte Flusssäure geladen und die übrigen Verkehrsteilnehmer waren nicht immun gegen Fluorid.
Fast ein Leben lang versuchte er schon zu widerstehen, wenn sein Element ihm einflüsterte, tollkühne, rücksichtslose Dinge zu tun. So auch jetzt. Er probierte halbherzig sich der Verbindung mit dem Fluor im Tank zu widersetzen, doch es klappte nicht und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es richtig sein konnte, es immer zu unterdrücken, wie es der Alchimistenzirkel lehrte.
Endlich gab der Fahrer des Gefahrguttransporters auf. Septimius wechselte sofort auf die Überholspur, der Wagen beschleunigte nach einer federleichten Berührung des Gaspedals. Viele Arunier hielten bestimmte ruarische Automarken für den Inbegriff des Luxus doch für Septimius ging nichts über Usias. Warum im Ausland suchen?

Die Strecke vor ihm war nun frei und bei seiner Geschwindigkeit brauchte er nicht lange bis zur Ausfahrt Ergalla. In der Stadt war es mit dem Fahrspaß leider vorbei. Der Verkehr kroch von Ampel zu Ampel und der Usias kam auch nicht schneller voran als die anderen. Septimius beobachtete ein paar Radfahrer, die sich ganz offensichtlich genau darüber lustig machten. Auf ihren Jacken prangten Aufkleber, die zur Legalisierung bestimmter pflanzlicher Rauschmittel aufriefen. Höchstwahrscheinlich hatten die Leute aber gleichzeitig große Angst vor allem, was ihrer Meinung nach mit „Chemie“ zu tun hatte. Jeden Morgen stand ein Dummer auf.
Die Überlegungen wie er diese Zeit sinnvoller hätte nutzen können, wurden immer stärker. Warum hatte er sich bloß darauf eingelassen einen Nachmittag damit zuzubringen, als Kuratoriumsmitglied der Universität einen Vortrag zu besuchen? General Cressidus sprach über berufliche Perspektiven für Chemiestudenten beim Militär. „Chemiestudenten mit Elementarmagie“ hatte er zwar nicht geschrieben, doch Septimius war sich sicher, dass er genau danach Ausschau hielt. Andernfalls gäbe es für solche Dinge Fachleute auf niedrigeren Hierarchieebenen.
Gegenüber anderen hätte er Cressidus wohl als seinen Freund bezeichnet. Vor sich selbst brauchte er sich jedoch nichts vorzumachen. Mit Freundschaft hatte ihre Beziehung wenig zu tun. Der Mann hatte ihn hintergangen, anders konnte man es nicht nennen. Als junger Fluormagier, der jeden Tag Nachrichten über die unmenschliche Grausamkeit der sarilischen Soldaten im Arisaja-Krieg zu hören bekam, war er gerne dazu bereit gewesen, chemische Kampfstoffe herzustellen, um deren Treiben Einhalt zu gebieten. Dass Cressidus aber vorhatte, diese nicht im Kampf, sondern gegen eine Stadt voller Frauen und Kinder einzusetzen, hatte er nie erwähnt. Septimius ärgerte sich weniger über die Sache selbst als darüber, dass Cressidus ihn offenbar für einen Schwächling hielt, dem man die Wahrheit nicht zumuten konnte. Gut, er selbst hatte es bei der ebenso arroganten wie dummen und naiven Phosphormagiern Odetta genauso gemacht, aber bei ihr war das tatsächlich erforderlich gewesen. PhosphormagierInnen waren immer so emotional.
In der sarilischen Kultur war es nicht üblich Schwäche vor dem Feind zu zeigen und Niederlagen einzugestehen, selbst dann nicht, wenn dies einen großen Propagandasieg mit sich gebracht hätte. Trotzdem fand Septimius es idiotisch, dass Cressidus alles getan hatte, um die Sache zu vertuschen, bis heute. Dank dieser Dummheit mussten sie seit zwanzig Jahren damit rechnen, dass es irgendwann doch ans Licht kommen würde, mit allen Folgen. Damals hätten die Leute es vielleicht verstanden, heute wo Sarilien mehr und mehr zum Touristenziel wurde, sicher nicht mehr.
Nach dem Vortrag wollte Cressidus unbedingt mit ihm reden und Septimius wurde den Verdacht nicht los, dass es etwas mit der alten Geschichte zu tun hatte.

Endlich erreichte Septimius das bewachte Alchimistenzirkelparkhaus. Er hing zu sehr an seinem Wagen, um ihn in Ergalla einfach irgendwo im Freien abzustellen. Bestenfalls würde jemand ein paar Parolen darauf schmieren, schlimmstenfalls würden irgendwelche subversiven Spinner das Auto anzünden.
Das bewachte Parkhaus gab es seit dem Arisaja-Krieg, der von heftigen Demonstrationen begleitet worden war. An diesem Nachmittag waren noch reichlich Parkplätze, denn das Alchimistenzirkeltreffen würde erst später stattfinden. Septimius suchte sich einen in der Nähe des Ausgangs und machte sich auf den Weg zum Campus. Sehr weit kam er dabei jedoch nicht, denn vor dem Zugang zum Universitätsgelände hingen wieder einmal Demonstranten mit Tröten und Transparenten herum. Dabei riefen sie Dinge wie: „Keine Militärforschung an unserer Uni!“ „Fort, fort mit dem Mörderpack!“ und dergleichen Geistreiches mehr.
Der Vortrag von General Cressidus war absichtlich auf den frühen Nachmittag gelegt worden, vielleicht weil die Universitätsverwaltung hoffte, dass diese Leute zu der Uhrzeit noch im Bett lagen, aber offenbar legten sie eine erstaunliche Disziplin an den Tag, wenn es darum ging unliebsame Veranstaltungen zu stören.
Septimius wusste, dass er bei diesen Leuten alles andere als beliebt war. Die Ultiria-AG war nicht nur der größte Chemiekonzern Aruniens sondern auch der am meisten gehasste. Das hing teilweise mit bedauerlichen Ereignissen wie dem Unglück von Enes Tall und gelegentlichen Verunreinigungen des arunischen Nationalflusses Orellan zusammen, teilweise mit den Kriegsproduktionen und zu einem nicht unerheblichen Teil damit, dass diese naiven Menschen in ihrer Ökogläubigkeit einfach nicht verstehen wollten, dass ihr Wohlstand nur durch Unternehmen wie Ultiria gesichert werden konnte. Wenn sich irgendjemand über die bösen Konzerne ausließ, wurde Ultiria immer als erstes genannt.

Somit war Septimius nicht überrascht darüber, dass er von einem Pfeifkonzert begrüßt wurde. Ganz vorne mit dabei war diese unsägliche Enes Tall-Aktivistin Quendula Clavaria, die sich einbildete, die Elavier würden irgendwelchen Wert auf Unterstützung durch gelangweilte arunische Studenten legen.
Es gab Menschen, die es einfach nicht wert waren Zeit damit zu verschwenden, mit ihnen zu diskutieren und diese hier gehörten zweifellos dazu. Septimius tat so als ob er das Gepfeife und die Beleidigungen nicht hören würde. Das wollten die Demonstranten aber offenbar nicht auf sich sitzen lassen. Gegenstände flogen in seine Richtung. So schnell war es also vorbei mit der Gewaltlosigkeit bei diesem heuchlerischen Pack. Ein Beutel mit roter Farbe verfehlte Septimius nur knapp. Das wäre peinlich geworden. Er wollte Cressdius wirklich nicht erklären, warum sein Anzug rot war. Ob der wohl mit einem Militärhubschrauber direkt vor die Tür gebracht wurde? Das Fahrverbot auf dem Campus galt ja nur für Normalsterbliche.
„Meine Damen und Herren, finden Sie das wirklich angemessen? Versuchte Körperverletzung bei einer Friedensdemo?“
Septimius‘ Laune wurde noch schlechter als er diese Stimme hörte. Das, was der Mann sagte, hatte zwar durchaus Hand und Fuß, aber deswegen freute Septimius sich trotzdem nicht darüber ihn zu sehen. Adrian Venatus war Professor für anorganische Chemie und ebenfalls Fluormagier. Außerdem war er ein Veteran des Arisaja-Kriegs und den Sarilern war es offenbar gelungen, ihm während der Kriegsgefangenschaft eine ordentliche Gehirnwäsche zu verpassen. Jedenfalls war er seitdem überzeugte Pazifist und setzte sich ständig für arunisch-sarilische Kooperation ein. Venatus war ein mittelgroßer Mann mit dunkelbraunem Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde. Seinem Körperbau nach zu urteilen hatte er trotz aller Aversionen der militärischen Fitness nicht ganz entsagt. In der Friedensszene genoss Venatus großes Ansehen, was sich jetzt auch daran zeigte, dass die Demonstranten tatsächlich aufhörten Septimius anzugreifen.

„Guten Tag Lurier Lebetinus.“
„Guten Tag Lurier Venatus.“ Wenn der glaubte, Septimius würde sich jetzt für die Hilfe bedanken, hatte er sich getäuscht.
„Auch auf dem Weg zu Cressidus‘ Vortrag?“, fragte Venatus.
„Ja, Sie etwa auch? Mir war nicht bekannt, dass Sie sich für Karriereperspektiven beim Militär interessieren.“
„Ich habe vor die Veranstaltung kritisch zu begleiten. Höchstwahrscheinlich wird General Cressidus eine sehr einseitige Sicht der Dinge vortragen.“
Natürlich. Was sonst?
„Und Sie sind der Meinung, dass Sie als Professor für anorganische Chemie noch eine wichtige Perspektive einbringen können?“
„Wie Sie sicher wissen, habe ich im Gegensatz zu manch anderen den Krieg persönlich miterlebt.“
Sein Blick in Septimius‘ Richtung machte deutlich, wie das gemeint war. Septimius ging nicht weiter darauf ein. Persönliche Betroffenheit verhalf nicht immer zu einem objektiven Blick auf die Wahrheit. Venatus begriff offensichtlich nicht, dass die Sariler ihn nur manipulierten. Schon allein diese angebliche Rettung durch das kleine Mädchen… Aber im damals schon kriegsmüden Arunien war das natürlich gut angekommen und hatte es in alle Zeitungen geschafft.
„Aber jetzt setzen Sie sich ja ganz groß für die Zusammenarbeit mit Sarilien ein. Wie läuft das denn?“
„Recht gut, auch wenn es natürlich auf beiden Seiten einige Hindernisse zu überwinden gibt. Rijuna sira Laria kommt übrigens nächsten Monat wieder zu einer Tagung hierher. Falls Sie Interesse daran haben Sie persönlich kennenzulernen statt nur immer weiter Ihre Ressentiments zu nähren.“
Rijuna sira Laria war die Frau, die Venatus damals gerettet hatte. Inzwischen war sie eine anscheinend recht fähige Wasserstoffmagierin, die Arunien und Venatus gelegentlich besuchte. Septimius spekulierte ja normalerweise nicht über solche Dinge, aber wenn sich ein Fluormagier mit einer den Zeitungsfotos nach zu urteilen durchaus recht attraktiven Wasserstoffmagierin traf, drängten sich gewisse Gedanken einfach auf. Ein objektives Bild von dieser Frau würde aber sicher nicht schaden.
„Dieses Angebot nehme ich gerne an. Wann wird sie denn hier sein, damit ich mir den Termin vormerken kann?“

Wenn Venatus überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Er nannte den Termin und die beiden betraten den Hörsaal im Erdgeschoss des Chemiegebäudes. Der Raum war relativ klein, anscheinend war der Andrang deutlich größer als die Veranstalter gedacht hatten. Septimius war sich ziemlich sicher, dass die meisten Besucher keine Chemiestudenten mit Interesse an Karrieren beim Militär waren. Viele der Anwesenden waren bestimmt Störenfriede oder nur gekommen, weil sie sich die Show nicht entgehen lassen wollten.
Cressidus stand bereits vorne auf der Bühne, Professor Agripetus, der die Veranstaltung organisiert hatte, am Rednerpult. Der lange Stau und die Aktivisten hatten Septimius einige Zeit gekostet. Er war kein Mensch, der gerne zu spät kam, auch wenn es Gelegenheiten gab, wo dies aus taktischen Gründen sinnvoll war. Diese Veranstaltung gehörte aber nicht dazu.
Venatus hielt währenddessen nach freien Sitzplätzen Ausschau und wurde fündig. Neben einer jungen Frau mit glatten hellblonden Haaren, gab es noch zwei Plätze. Septimius kannte sie vom Alchimistenzirkel. Ursula Verna war dort Elevin für das Element Chlor und machte ihre Sache recht gut. Als ihr Professor und der Vorstandsvorsitzende des größten Chemiekonzerns des Landes fragten, ob die Plätze neben ihr noch frei waren, errötete sie leicht. Sie hatte jedoch keinen Grund so schüchtern zu sein. Nach allem, was Septimius wusste, war sie eine sehr tüchtige Studentin und Alchimistenzirkelschülerin, wie es bei Halogenmagiern meistens der Fall war. Trägheit und fehlenden Ehrgeiz fand man bei ihnen eigentlich nie. Agripetus war Ursulas Adept gewesen, vielleicht war sie deswegen hier. Der Professor war zwar Schwefelmagier, hatte aber schon so viele Novizen ausgebildet, dass der Zirkelrat über das nicht ganz passende Element hinweg schauen konnte.

Agripetus‘ Begrüßungsworte wurden mit Pfiffen quittiert, als er seine Hoffnung auf eine konstruktive Veranstaltung ausdrückte. Damit war wohl nicht zu rechnen, aber höchstwahrscheinlich hatte auch niemand ernsthaft darauf gehofft.
Cressidus‘ durchdringende, befehlsgewohnte Stimme übertönte den Lärm jedoch problemlos. Er begann seine Rede, während Agripetus‘ Blicke über die Reihen der Anwesenden wanderten. Vermutlich überlegte er, ob es notwendig und taktisch günstig wäre, einige der Störenfriede hinauszuwerfen. Ein paar Herren im dunklen Anzug, die an den Wänden standen, waren vermutlich da, um solche Absichten bei Bedarf in die Tat umzusetzen.
Zumindest aus Septimius‘ Sicht waren weder die Rede noch die Zwischenrufe besonders interessant. Hoffentlich hatte Cressidus wirklich etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Dem General gelang es sich Gehör zu verschaffen, doch er musste immer wieder trinken. Ob den Störern dieses Zeichen von Schwäche auffiel? Vermutlich nicht. Septimius traute ihnen nicht zu, so genau auf ihre Umgebung zu achten. Diese Leute hatten es nicht mit den leisen Tönen.
Cressidus sprach nun von einem Forschungsprojekt, bei dem es um die Entwicklung umweltfreundlicher Bomben ging.
„Bomben, die natürlich trotzdem dazu gedacht sind Menschen zu töten!“, rief einer der Demonstranten laut in den Raum.
Cressidus überging auch diesen Zwischenruf und sprach weiter. Die Dame vom Studentenwerk stellte ihm ein neues Glas Wasser hin. Agripetus schaute kurz in Septimius‘ Richtung. Der erwiderte den Blickkontakt mit dem Schwefelmagier und versuchte ihm zu vermitteln, dass er die Fragerunde absagen sollte. Das wäre hier nur Zeitverschwendung.
Jemand fragte mit leiser Stimme: „Entschuldigen Sie, Lurier, darf ich kurz durch? Ich muss dringend an die frische Luft.“ Es war ein Mädchen mit Sommersprossen und wuschligen braunen Haaren, sie wirkte sehr jung und ziemlich blass im Gesicht. Septimius und Venatus standen kurz auf und ließen sie durch. Schließlich wollte niemand, dass ein Malheur passierte.

Die Luft im Hörsaal war wirklich miserabel. Der Raum war einfach nicht für so viele Leute ausgerichtet. Selbst an den Rändern standen noch Menschen.
Septimius war nicht schlecht, doch ein seltsames Gefühl im Bauch machte sich trotzdem breit. Was war nur los mit ihm? Normalerweise hatte er keinerlei Probleme damit das Mittagessen ausfallen zu lassen und danach in stickigen Räumen zu sitzen. Neben diesem diffusen Unwohlsein fühlte er noch etwas anderes. Aus weiter Ferne bemerkte er wie ein Flüstern die Anwesenheit seines Elements. Er schaute sich unauffällig um und versuchte dabei sich darauf zu konzentrieren. Ein Mann zwei Reihen vor ihm hatte offenbar ein fluoridhaltiges Mundwasser benutzt. Das musste es sein, oder? Er konnte das Fluorid jetzt deutlich wahrnehmen. Normalerweise fiel ihm so etwas nicht auf. Diese Veranstaltung war wirklich fürchterlich langweilig.
Doch woher kam dieses unangenehme kribbelende Gefühl? Wenn er an so einen Unsinn geglaubt hätte, hätte Septimius es für eine Vorahnung gehalten, doch er war ein rationaler Mensch. Seine Fähigkeiten wurden zwar „Elementarmagie“ genannt, doch das war lediglich ein veralteter Ausdruck. Er wusste genau, was damit möglich war und was nicht. Vorahnungen gehörten definitiv nicht dazu. Wahrscheinlich war es einfach nur der Frust über die überflüssige Zeitverschwendung, verbunden mit dem Lärmpegel und der schlechten Luft. So musste es sein. Unauffällig schaute er Venatus an. Ob es dem wohl ähnlich ging? Wenn es sich um einen vernünftigen Menschen gehandelt hätte, dem er vertrauen konnte, hätte Septimius nachgefragt, doch in diesem Fall ließ er es lieben bleiben. Die Tür zum Hörsaal wurde geöffnet und das Mädchen kehrte zurück. Dieses Mal blieb sie aber gleich hinten stehen. Offenbar wollte sie die Männer nicht noch einmal aufscheuchen.
Septimius versuchte sich wieder auf die Rede zu konzentrieren und das Klingeln in seinen Ohren auszublenden. Cressidus fiel es immer schwerer weiterhin so laut zu reden. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß und beim Reden flog ihm Spucke aus dem Mund. Richtig unappetitlich sah das aus. Warum ließ der General sich so gehen?

Mit einem Mal ergab alles Sinn. Septimius sprang auf und kletterte über die Beine der anderen Besucher, doch es war schon zu spät. Cressidus brach unter Krämpfen zusammen. Als Septimius es endlich nach vorne geschafft hatte, lag er bereits regungslos am Boden.
„Ist irgendjemand von euch Phosphormagier?“, rief Septimius in das allgemeine Chaos hinein. Die Leute wussten offenbar nichts mit dieser Frage anzufangen, einige waren ebenfalls aufgestanden und alle redeten durcheinander.
Septimius fühlte bei Cressidus den Puls. Er bemerkte nichts mehr. Dann sollten sich die Erste Hilfe-Kurse des Alchimistenzirkels doch noch als nützlich erweisen. Er bugsierte Cressidus in die stabile Seitenlage, was bei seinem Gewicht gar nicht so einfach war und begann mit der Herzdruckmassage. Große Hoffnungen machte er sich aber nicht. In solchen Situationen wäre es wirklich gut über ein Element zu verfügen, das zur schnellen Lebensrettung besser geeignet war. Leider war der Besitz von Atropin in Arunien streng reguliert, da es als Rauschmittel, sowie wegen seiner dämpfenden Wirkung auf Elementarmagie missbraucht werden konnte.
Mit seiner Fluormagie konnte er das noch ungebundene Gift davon abhalten Schaden anzurichten, doch diese Hilfe kam bereits zu spät. Zu viel Gift hatte bereits in seinem Körper reagiert und sich von seinem Fluoratom getrennt. Septimius hatte keinen Einfluss darauf. Das restliche Gift von einer Reaktion abzuhalten war schon mühsam genug, erstrecht neben der anstrengenden Massage. Das Molekül gehörte zu denen, die er selbst damals hergestellt hatte. Die Substanz war bei der Temperatur des kühlen Wassers kaum flüchtig, zum Glück aller anderen Anwesenden. Ein ohrenbetäubender Heulton erklang. Anscheinend hatte jemand den Feueralarm betätigt. Ob das absichtlich oder versehentlich geschehen war, wusste Septimius nicht.
„Verlassen Sie ruhig den Raum. Kommen Sie zum Sammelpunkt.“
„Nicht drängeln, dadurch wird nichts besser. Gehen Sie ruhig nach draußen.“
Agripetus und Venatus versuchten die aufgescheuchten Studenten geordnet nach draußen zu bugsieren. Ob die beiden begriffen hatten, was hier vor sich ging?

„Hallo, ich bin eine Phosphormagierin.“
Septimius schaute auf. Die Sprecherin war das junge Mädchen, das vorhin wegen Übelkeit den Raum verlassen hatte.
Sie schaute Cressidus an. „Er ist schon tot, nicht wahr?“
Septimius hatte sich diese Wahrheit noch nicht so recht eingestehen wollen, doch vermutlich hatte sie recht. Für eine Phosphormagierin war es ein Leichtes das festzustellen, auch ohne den Patienten zu berühren.
„Ich fürchte ja.“
„Es tut mir leid, ich bin nicht schneller nach vorne gekommen.“
„Es ist nicht deine Schuld.“
„Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich habe einfach nicht begriffen, was hier passiert. Ich habe gedacht, dass mir wegen dem Essen in der Mensa schlecht ist.“
Sie starrte wie gebannt auf das halbleere Wasserglas, in dem sich immer noch Gift befand.
„Du kannst nichts dafür“, wiederholte Septimius. „Du bist noch Novizin und hast keine Erfahrung mit solchen Dingen.“
Diese idiotischen Gutmenschen verhinderten ja, dass Umgang mit Giften noch gelehrt wurde. „Ich habe es selbst auch nicht erkannt.“
Sie konnte nichts dafür, doch für ihn galten diese Entschuldigungen nicht. Er hätte etwas merken müssen, schließlich kannte er sich mit solchen Substanzen aus. Dort hinten war er aber einfach zu weit weg gewesen und die Beobachtungen, die er gemacht hatte, hatte er nicht richtig gedeutet. Ein Fehler, der Cressidus das Leben gekostet hatte.
„Wie heißt du denn?“ Es war besser, wenn er das Mädchen mit dem Namen ansprechen konnte.
„Melia. Aber was ist das? Ich habe noch nie etwas so Giftiges gesehen. Wie kommt es hierher?“
Septimius vermutete, dass sie mit „gesehen“ durch ihre Gabe wahrgenommen meinte. Elementarmagie war in Arunien nicht häufig genug, dass es für solche Dinge eigene Wörter gab.
„Mir wird davon übel, obwohl ich merke, dass es nicht aus dem Glas herauskommt.“
Septimius überlegte kurz, ob er ihr die Wahrheit zumuten konnte und entschied sich dann dafür. Dieses Mädchen war schließlich Novizin des Alchimistenzirkels und bis jetzt wirkte sie ziemlich gefasst.
„Erschrick nicht, ich halte nichts davon dir etwas vorzumachen. Es handelt sich um einen Nervenkampfstoff. Auf Phosphorbasis, wie du ja schon gemerkt hast.“
„Was sollen wir jetzt tun? Ich glaube, ich könnte es kaputtmachen.“
Septimius war über diese Reaktion erfreut. Keine Panik, sondern sofort ein sinnvoller Handlungsvorschlag. Aus der Kleinen könnte etwas werden.
„Grundsätzlich eine gute Idee, aber ich denke, die Sicherheitskräfte werden es untersuchen wollen. Sie wollen schließlich wissen, was es genau ist und wo es herkommt.“
Draußen waren schon die Sirenen der Polizei und Feuerwehr zu hören.
„Was es ist könnten wir ihnen doch sagen.“
„Das lassen sie leider so nicht gelten.“ Eine weitere idiotische Regelung. Die Regierung vertraute den Elementarmagiern einfach nicht.
„Kannst du dich mal umschauen, ob noch irgendwo anders etwas ist?“
Er selbst versuchte das ebenfalls und die beiden Gaben vereinigten sich ohne große Mühe. Außer im Wasserglas war kein Gift zu finden.
„Gut, es sollte zumindest niemand anderes zu Schaden gekommen sein. Jetzt bleiben wir am besten hier und passen auf bis die Experten von der Feuerwehr kommen.“
Melia nickte. „Aber wer könnte das gewesen sein?“
„Ein Mann wie Lurier Cressidus hat viele Feinde.“
„Ja, aber warum so umständlich? Es gibt doch bestimmt jede Menge Gifte, an die man leichter rankommt und mit denen man auch einen Menschen vergiften könnte. Ist das nicht eher, wenn es mehr Leute erwischen soll?“
„Das kann ich dir nicht sagen, Melia.“
Das Mädchen hatte zweifellos recht. Die Giftmenge in diesem Wasserglas hätte vermutlich ausgereicht um alle Anwesenden zu töten, wenn sie beispielsweise über das Lüftungssystem im Raum verteilt worden wäre.
„Hoffentlich findet die Polizei etwas raus.“
Melias Blick ruhte weiter auf dem Glas mit Gift. Septimius wollte verhindern, dass sie doch noch in Panik geriet und versuchte sie am Reden zu halten.
„Hast du Interesse an einer Stelle beim Militär?“
Melia errötete leicht. „Nein, deswegen bin ich nicht hier. Ich bin bei der Campuszeitung. Dafür wollte ich von dieser Veranstaltung hier berichten.“
Campuszeitung? Bei Septimius schrillten einige Alarmglocken.
„Ich studiere sowieso Bio, darum ging es ja nicht.“
Septimius zweifelte nicht daran, dass Cressidus auch Aufgabenbereiche für eine Phosphormagierin mit Biostudium eingefallen wären, doch er behielt diesen Gedanken für sich. Etwas anderes war wichtiger.
„Bevor du über diese Sache hier berichtest, solltest du dich aber mit der Polizei in Verbindung setzen. In solchen Fällen ist es manchmal besser, wenn nicht alle Details an die Öffentlichkeit kommen.“
Die idealistischen jungen Leute verstanden häufig nicht, dass so etwas aus Gründen der nationalen Sicherheit gelegentlich notwendig war, aber er wollte es zumindest versuchen.

Bevor Melia irgendetwas entgegnen konnte wurde die Tür geöffnet und zwei Gestalten in Ganzkörperschutzanzügen der Feuerwehr stürmten herein.
„Was machen Sie noch hier?“
„Guten Abend, wir sind beide Elementarmagier und haben hierauf aufgepasst, bis Sie kommen.“ Er wies auf das Glas.
„Na gut, aber jetzt raus hier.“
Sehr begeistert hörte sich der Mann nicht an, vielleicht lag es aber auch daran, dass seine Stimme durch das Atemgerät verzerrt war. Eigentlich wäre es das einzig Sinnvolles für so etwas Elementarmagier einzusetzen, aber nun ja, es geschah nicht.
Draußen wurden Septimius und Melia von Polizei und Feuerwehr empfangen. Beide mussten unter die Dekontaminationsdusche Für Septimius war das nicht so schlimm, denn seine Alchimistenzirkelrobe lag noch im Auto. Besonders scharf war er zwar nicht darauf, die für den restlichen Abend zu tragen, aber immerhin besser als nasse Kleidung. Melia hatte diese Möglichkeit nicht und würde sich durch Kälte wahrscheinlich eher etwas holen, als durch minimale Giftspuren, die sie vielleicht abbekommen hatte.
Ein völlig aufgelöst wirkender junger Mann redete währenddessen auf die Polizei ein. „Ich habe das nicht gewollt, wirklich nicht. Ich hab das nicht gewollt. Es sollte nur ein Scherz sein. Der Typ hat mir diese Kapsel gegeben, die sich im Wasser auflöst. Er hat gesagt, die Dosis würde passen. Sein Stoff war bis jetzt immer in Ordnung. Es sollte nur ein Scherz sein. Ich hatte keine Ahnung. Ich wollte nicht, dass er stirbt, nur dass er sich ein bisschen lächerlich macht.“
„Am besten Sie kommen mit und erklären uns das auf der Wache.“
Septimius konnte kaum fassen, was er da hörte. Konnte das etwa stimmen? Ein Drogendealer brachte in Ergalla einen hochpotenten chemischen Kampfstoff unter die Leute? Wenn die gewöhnlichen Arunier auch nur einen Anflug von Ahnung hätten, wie inkompetent ihre Sicherheitsbehörden wirklich waren, würde wohl keiner mehr ein Auge zu tun.
Der junge Mann wusste offenbar gar nicht, was er da einem anderen Menschen ins Glas gemischt hatte. Ohne Gabe war das auch schwer, das musste Septimius ihm zugestehen. Der Junge hatte großes Glück gehabt. Wenn er das Gift berührt oder eingeatmet hätte, wäre er wahrscheinlich ebenfalls tot.
Der Polizist telefonierte eifrig. Septimius konnte sich vorstellen warum. Sie wollten den Drogendealer natürlich ausfindig machen und verhindern, dass Schlimmeres passierte.
„Auch an Sie hätten wir noch ein paar Fragen“, sagte einer der Beamten zu Septimius. Eine Polizistin beschäftigte sich mit Melia.
„Ja, selbstverständlich.“
Das würde ein langer Abend werden und das Essen vor dem Alchimistenzirkeltreffen musste er wohl auch ausfallen lassen. Was Cressidus wohl so dringend hatte besprechen wollen? Jetzt würde er es nie erfahren.

#2 RE: [Silaris] Geschichtensammlung (Fern vom Schlachtfeld) von Nharun 05.01.2020 14:54

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Mir gefällt deine Kurzgeschichte, nicht nur aufgrund ihrer spannenden Handlung, sondern vor allem, weil sie gespickt ist mit kleinen Details, die mein Bild von deiner Welt, dass durch die anderen Beiträge entstanden ist, weiter vervollständigen. Dass du eine konservative Erzählerfigur hast und über Dinge erzählst, die so ähnlich auch bei uns stattfinden, würzt das ganze noch mit einer Prise Gesellschaftskritik.

Durch die Kurzgeschichte bekomme ich jedenfalls immer mehr den Eindruck, dass wenn es nicht doch ein sarilisches Attentat war, vielleicht eine Verschwörung der arunischen Falken dahinter steckt, die für Gründe für eine kriegerische Politik gegen Sarilien nicht vor so etwas zurückschreckt. Ein Gedanke, der mir schon beim Wahlkampfspecial kurz kam, aber hier durch den fehlgeleiteten Studenten-Attentäter noch plausibler erscheint. Du musst dieses Verschwörungsrätsel gar nicht für mich in einer Antwort aufklären: Verschwörungstheorien kann man eh nicht ausräumen

#3 RE: [Silaris] Geschichtensammlung (Fern vom Schlachtfeld) von Elatan 06.01.2020 22:24

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Ich kann Nharun da nur zustimmen und die Geschichte loben, durch die ich richtig in die Welt hineinversetzt wurde - ich finde, dass Sachtexte (die ich trotzdem sehr gerne lese) so einen Effekt nur schwer erzielen können.

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