#1 [N22] Die Reise von Chrontheon 01.11.2022 17:26

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Kapitel 1

Kaltenbach ist ein kleines Dorf im Schlummertal, nur wenige Meilen von der Talburg Grauenstein entfernt. Die Nur fließt gemütlich durch das Dorf hindurch und bringt Frischwasser und Kleinfische. Die Klimmberge im Osten bieten einen schattigen Vormittag, während man einen langen Sonnenuntergang durch die Öffnung im Westen genießen kann. Genährt wird Kaltenbach durch die Felder und Weiden drumherum, sowie durch den ein oder anderen Kleinfisch aus der Nur, und gewärmt durch das Holz des Reinwaldes im Süden und des Kargwaldes im Norden. Es ist der ideale Ort für ein natürliches und unereignisvolles Leben.
Ein Leben, wie es einigen jedoch nicht passt. Eduan Rothein ist einer von jenen, die nicht für ein Leben im Heimatdorf gemacht sind. Er ist ein Dritter. Erste sind dazu bestimmt den väterlichen Betrieb zu übernehmen und Zweite, Erste zu unterstützen. Dritte haben für gewöhnlich die Wahl, doch Vater Rothein hat nicht viel, mit dem man arbeiten kann. Er war selbst ein Zweiter.
Eines Tages, als Eduan beschloss, das Leben in Kaltenbach sei zu einseitig, trat er auf den Vater zu und fragte nach dem Erbe. Es würde noch mehr werden, wenn er wartete, hatte der Vater gesagt. Doch Eduan war bestimmt, mit dem Wenigen, das er erfragen könnte, durchzukommen.

Und so begann die Reise. Eduan erhielt dreihundertvierzehn Gulden, einen Esel, drei Hühner, und ein Rind, sowie ein gutes Seil von zwölf Spannen Länge, eine Handaxt und einen guten Rucksack - den Anteil von Vaters Besitz, der ihm als Dritter zustand. Ein großzügiges Erbe, doch die Rotheins hatten über Generationen ein bescheidenes Leben geführt.
Am zweiten Markttag des Frühsommers kaufte Eduan noch Käfige und Verpflegung, verabschiedete sich von den Dorfleuten, und ritt südwärts in die Mittagssonne. Die Kronen des Reinwaldes boten ihm angenehmen Schatten für einige Stunden, doch sobald er die letzten Bäume hinter sich gelassen hatte, brannte die Sonne erbarmungslos auf ihn nieder. Der Weg wurde steiniger, und der Fortschritt langsamer. Doch als die Sonne sich den Gipfeln des Westens näherte, konnte Eduan bereits das nächste Dorf sehen: Oberwald.
Es waren allerdings noch drei Meilen, und die roten Strahlen, die noch am hohen Gestein vorbeischauen, würden ihm nicht lange ein Leitlicht sein. Es war auch dieser Moment, in dem Eduan beschloss zu rasten, dass er merkte dass er kein Zelt hatte.

#2 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 02.11.2022 19:46

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Die Nacht war hart. Und kalt und laut. Eduan hatte gar nicht gewusst, wie laut ein Wald bei Nacht sein kann! Eulen, die rufen, Wölfe, die heulen, unbekanntes Getier, das durch das Gebüsch hinter seinem Kopf eilte - das tat seinen Nerven nicht gut! Wie erfrischend es war, als er dann doch schlief!

Am nächsten Tag brach Eduan bei Sonnenaufgang auf. Nur wenige Stunden später traf er in Oberwald ein, wo ein geschäftiges Treiben ihm den Weg durch die Straßen schwer mache. Was konnte in einem Dorf wie Oberwald nur so viele Leute in die Straßen bringen?
Zwischen den vielen Leuten, die ihn ignorierten, gab es schon den ein oder anderen, der ihm eine Antwort bot. Ein junger Bursch, kaum älter als Eduan, der ein Fass vor sich herrollte, sagte ihm, es sei Wein für den Talherrn. Er musste den Ritter von Freibach meinen! Doch warum würde dieser im Dorf erscheinen?
Ein anderer, der Kisten mit Früchten des Feldes auf einen Wagen hob, erklärte ihm, dass dies nach Talheim gebracht wurde, um dem Baron ein Mahl zu bieten. Von ihm erfuhr er auch, dass die Angelobung des Barons gefeiert wurde. Das erklärte natürlich alles! Die äußeren Dörfer, wie auch Kaltenbach eines war, bekamen so gut wie nichts von den Festlichkeiten des Adels mit.
Nachdem Eduan nach langem Drängeln seinen Weg zum Haupthaus gefunden hatte, konnte er sogar mit einem Bediensteten reden, der ihm ausrichtete, der Talherr wäre im Zuge solcher Feierlichkeiten in den wichtigsten Siedlungen anzutreffen, und würde das Volk an den Festen teilnehmen lassen - eine Geste, die nicht jeder noble Herr sich leisten konnte oder wollte.
Eduan erfuhr ebenfalls, dass es nur eine Halbtagsreise nach Freibach sein sollte - zwei, wenn er über Unterwald gehen wollte. Ohne die Vorbereitungen aufhalten zu wollen, verabschiedete Eduan sich vom Amtsdiener und speiste gemütlich im örtlichen Gasthaus und setzte seine Reise gen Süden fort. Wie ihm gesagt worden war, erreichte Eduan die Stadt lange vor Sonnenuntergang.

#3 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 03.11.2022 20:21

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Freibach - die Stadt der Möglichkeiten! Zumindest wenn man aus dem Schlummertal kam. Der Blick war von außen schon bemerkenswert. Stadtmauern von 32 Ellen Höhe, mit Wachen besetzt, ein Tor, durch das man gemütlich mit Banner reiten konnte, gepflasterte Straßen und bestreute Gassen, und das beste: der Tagesmarkt! Hier musste Eduan nicht auf den Markttag warten, auf den sich das Dorf einmal einigen musste, nein, er konnte nun jeden Tag dorthin gehen und die verschiedensten Sachen kaufen! Bisher hatte er nur davon gehört, doch musste er, da er nun hier war, es doch mit eigenen Augen sehen!
Als Eduan den Markt gefunden hatte, konnte er sich kaum fortbewegen. So viele Menschen konnten hier doch gar nicht leben, dass der Platz den ganzen Tag gefüllt war! Es gab doch einiges, das Eduan noch lernen konnte. Düfte aus allen Richtungen strömten in seine Nase. Verschiedenstes Obst, das frisch gereift war; Gemüse, das gestern noch am Feld gewachsen war; Fleisch vom Metzger, Fisch aus der Nur; Brote, wie sie kein Dorf kannte. Ein Stand bot Honig in verschiedenen Farben an; ein anderer Öle und Fette; ein dritter Essig und Weine. Weiter außen waren die Stände des Seilers und Lederers, des Schmieds und des Schnitzers, des Webers und des Töpfers. Die Auswahl war gewaltig - vieles, was hier angeboten war, wurde zuhause selbst gefertigt.
Eduan füllte seinen Proviant auf, kaufte noch etwas frisches, und hielt noch beim Imker. Ein Topf mit Honig und eine Kerze war es dann doch noch; zwei Produkte, die ihm später noch nützlich sein könnten.

Als die Sonne sich erneut gen Boden neigte, kehrte Eduan ins Gasthaus ein. Um die Tiere wurde sich gekümmert, und ein warmes Mahl später fand Eduan sich mit fünf Fremden in einem Zimmer wieder. Einer von ihnen - Tallrich - war ein Reisender, der einfach die Welt erkunden wollte. Ein anderer, Allfried, war Musiker, der von Stadt zu Stadt fuhr, um sein Täglich Brot zu verdienen. Andricht und Eindricht waren Brüder - zumindest behaupteten sie es; die Ähnlichkeit war ihnen nicht anzusehen. Sie wollten nach Nurgrau, um der Garde beizutreten. Schließlich war dann noch Furbald. Er war kürzlich aus den Diensten des Barons entlassen worden und wollte nun sein Glück im Norden finden. Eduan erzählte seine Geschichte zuletzt. Als er fertig war, redeten sie noch ein bisschen, doch schlief bald einer nach dem anderen ein. Die Geschäftigkeit von draußen wandelte sich nach und nach in Ruhe um.

Die Nacht war erfrischend, das Erwachen ein Graus. Das Geld war weg. Alles. Von jedem. Und Furbald.
"Dieser Mistkerl! Ich weiß jetzt, warum der Baron ihn nicht mehr haben wollte!" Tatsächlich war es Andrichts Stimme, die Eduan aufweckte. Sein Bruder schien anderer Meinung zu sein. "Hätte der Baron gearnt, dass er ein Dieb ist, wäre er gar nicht erst hierher gekommen. Furbald - wenn das überhaupt sein Name ist - war vermutlich nie in Adelsdiensten.

#4 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 04.11.2022 23:16

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Wir werden ihn suchen; ohne das Geld würden wir sowieso nicht bis nach Nurgrau kommen", sagte Eindricht bestimmt. Die Brüder beschlossen also, dem Dieb nach Norden zu folgen.

Tallrich reiste ebenfalls nach Norden, um über den Kaltenbacher Pass nach Westen zu fahren. Ob mit oder ohne die paar Kreuzer, das war ihn auch schon egal. Allfried beschloss zu bleiben. Für ihn war es einfacher, durch die Musik zu Geld zu kommen, als mittellos weiterzureisen.
Und Eduan? Er wusste nicht, was er machen sollte. Ein Erbe von dreihundert Gulden einfach weg. Er hatte zwar noch das Vieh, doch die Hühner gaben keine Eier und das Rind keine Milch. War es schon Zeit, zu arbeiten? Was konnte er schon tun?
Als der Gastwirt nach dem Geld für Nächtigung und Mahl fragte, erklärte Allfried glücklicherweise die Situation und versprach, Eduans Anteil zu übernehmen. Im Gegenzug wollte er nur jemanden, der sich um seine Sachen kümmert und für die Auftritte wirbt. Das konnte Eduan tun.

Die Tage vergingen, und die beiden sammelten trotz großzügiger Ausgaben fast hundert Gulden zusammen. Da konnten sie sich schon eine lange Weiterreise leisten!
Bevor es allerdings weiterging, kaufte Eduan noch ein Zelt - der Musiker hatte zwar eines, doch das war nicht gerade für zwei gedacht. Allfried spannte sein Pferd vor den Wagen, während Eduan das Zeug auflud, und nach einem letzten Mahl waren sie wieder unterwegs.

#5 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 05.11.2022 20:06

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Kapitel 2

Zu zweit ging die Reise doch schneller voran. Innerhalb weniger Tage durchreisten sie das ganze Schlummertal: Vorderklamm, Altenbach, Hinterklamm, Hohenstollen - die Stadt, zu der sie dreimal im Freien nächtigen mussten -, Eberwiesen, Tannberg, Niederbergen, Haltenach und Glimmingen. Und als sich die Gipfel links und rechts dem Boden entgegenneigten, und der Blick auf die blauen Wellen im Osten, und die grünen im Westen fiel, wussten sie, dass Talheim nicht mehr fern war. Sie mussten nur noch der Nur folgen, und würden bald das Nordtor sehen.

Talheim war eine prächtige Stadt! Größer und mächtiger als alles, was Eduan jemals gesehen hatte! Die Tore, die Mauern, die Häuser, die Straßen, die Märkte - es gab drei davon - und vor allem die Burg! Eduans Vater hatte ihm einst erzählt, Stadtburgen wären tendenziell kleiner als Landburgen, doch von dem, was er hier sah, musste sie größer als Grauenstein sein!
Ein passendes Gasthaus war schnell gefunden, die Tiere gut versorgt, und Allfried machte mit den Wirten der Nachbarschaft einige Auftritte gegen Mahl und Silber aus. Eduan war dadurch die Gelegenheit gegeben, die Stadt zu er kunden und Zuschauer anzuwerben.

Wer einmal den Markt von Freibach gesehen hatte, musste sich den nur noch größer und vielfältiger vorstellen. Dutzende Händler, die das Gleiche, oder Ähnliches anboten, Waren, wie man sie nur aus Geschichten kannte, und sogar gebaute Geschäfte, die die Marktstände einkreisten. Unglaublich war das alles! Handwerker wie Schmiede, Gerber und Schnitzer hatten ihre Werkstätten in der Peripherie, während sich Lebensmittel- und Fernhändler im Zentrum des Platzes einfanden. Und das war nur einer der Märkte!
Was auch interessant war, war die Möglichkeit, Schwerter direkt am Markt zu kaufen. Innerhalb der Stadt konnte man sie natürlich nicht führen, aber der Erwerb war sicherlich möglich! Rüstungen bot ein Schmied auch an, doch waren die teuer!

Die Sonne neigte sich bald dem Horizont entgegen, und Eduan merkte, dass er den ganzen Nachmittag nur mit der Marktschau verbracht hatte - und er hatte noch nicht einmal alles gesehen! Dennoch bewegte er sich heimwärts. Es war nicht leicht, den Weg durch die dunklen Straßen zu finden, doch noch gab die Sonne ihr Licht frei.

#6 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 06.11.2022 21:24

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Als sich jedoch die Sonne doch zur Ruhe bettete, gaben nur wenige Häuser Licht, und das auch nur für kurze Zeit. Bald waren nur noch der Mond und die Sterne für ihn da. Dennoch musste Eduan sich eingestehen, dass er sich verlaufen hatte. Plötzlich schauten alle Häuser gleich aus, und die Wegweiser an den Kreuzungen halfen auch nicht weiter.
Hier und da war ein Geräusch in einer verwinkelten Gasse zu hören, stolperte ein Verlorener vorbei, oder bellte ein Hund. Das Gasthaus jedoch ... das war nirgendwo zu sehen.

Nachdem er stundenlang durch die dunklen Straßen geirrt war, fand Eduan sich auf einem großen Platz wieder. Er war dem Nordmarkt sehr ähnlich, und doch anders aufgebaut - was heißen musste, dass er die halbe Stadt durchquert hatte! Was wohl unheimlicher war? Ein verlassener Tagesmarkt bei Nacht, oder die leeren Straßen im Mondlicht?
Als er so an den Ständen vorbeiging, entdeckte Eduan eine Figur in der Ferne. Ein Gesicht konnte er nicht erkennen, das lag im Schatten einer schwarzen Kapuze. Schnell versteckte er sich hinter einer Plane, als die Figur sich ihm näherte - doch nicht Eduan war das Ziel. Ein Mann mit Bart war erschienen, und sie begannen ein Gespräch in gedämpfter Stimme.
"Du hast es?", fragte der Bärtige. "Ja", zischte der andere zurück, "doch hast du deinen Teil noch nicht erfüllt. Die Nacht belohnt nur die Erfolgreichen." Der Bärtige schaute hektisch in alle Richtungen, bevor sein Fokus zum Verhüllten zurückkehrte.
"Das ist nicht so leicht, wie ihr es euch vorstellt!" "Wäre es leicht, wäre es nicht deinen Lohn wert." "Ich brauche mehr Zeit! Mehr Mittel! Leute!" "Du erhältst mehr Zeit", antwortete der Verhüllte, dem anderen den Rücken kehrend. "Nicht mehr. Wenn du es in drei Tagen nicht vollbracht hast, finden wir einen Ersatz." Damit verschwand er. Der Bärtige überlegte ebenfalls nicht lange, bevor er den Markt eiligst verließ.

#7 RE: [N22] Die Reise von DrZalmat 07.11.2022 15:18

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Eigentlich wollte ich nicht hier reinschreiben damit dein Text nicht unterbrochen wird aber ich wollte sagen: weiter so, ich bin schon neugierig wie es weiter geht

#8 RE: [N22] Die Reise von Chrontheon 07.11.2022 20:14

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Eduan konnte nicht glauben, was er da gefunden hatte. Wer waren diese Männer? Was war der Lohn, und was war die Tat? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Geschwind war er dem Bärtigen auf den Fersen. Der mochte zwar eilen, doch seine Schritte waren nichts im Vergleich zu dem, was Eduan darbrachte. Doch wohin ging er nur?
Es stellte sich heraus, dass der Bärtige in ein Lagerhaus jenseits der Nur floh. In Talheim war die Nur jedoch kein harmloser Bach mehr, sondern ein drei Spannen breiter Fluss. Und die einzige Brücke in Sicht war mit zwei Breiten besetzt.

Es ging kein Weg dran vorbei: Eduan schwamm, wie er war, durch die Nur ans andere Ufer - es war Sommer, da sollte so etwas doch kein Problem sein! Doch es war eines: Nicht die Tiefe machte ihm Probleme - "schwimmen" war recht weit hergeholt, wenn man bedachte, dass das Wasser gerademal seine Beine bedeckte -, doch es war *kalt*! Wie konnte die Nur hier trotz der Schattenlosigkeit nur nicht aufgewärmt sein?
Zitternd kroch er ans andere Ufer und schlich hinüber zum Lagerhaus. Drinnen war tatsächlich ein Licht! Nachdem er sich durch ein gebrochenes Fenster geschlängelt, und sich dabei fast den Arm ausgerenkt hatte, konnte er sich einem laufenden Gespräch nähern.

"..eiß nicht, was ich machen soll! Er will mich ersetzen! *Ersetzen*! Was soll ich nur tun? Wir können es uns nicht leisten, den Stoff nicht zu bekommen!" Das musste der Bärtige sein. Eduan konnte nicht erkennen, mit wem er sprach, doch die Mauer, an die er gelehnt saß, schützte auch ihn von ihren Blicken.
"Das schaffen wir schon." Der Gesprächspartner hatte eine ungewöhnlich hohe Stimme. "Ich kann dir meine Armbrust borgen. Es gibt ein Fenster, das immer offen steht.." Eduan war entsetzt. Was hatte das alles zu bedeuten? "Bring es schnell hinter dich. Je schneller wir aus diesem Loch verschwinden, desto besser!"

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