Kleiner Disclaimer vorweg: Ich hab eine fette Erkältung, die zwar grade besser wird, aber dafür gesorgt hat, dass ich Teile der Geschichte im Delirium schrieb und nicht mehr zum Korrekturlesen kam. Tchuligom. 🤭
Die Stimme der Toten
Jevir war immer der Beste in der Tempelschule der Hauptstadt Estanyors gewesen, welche sich im Schatten des Kaiserpalastes, der gewaltigen Nekropole, zu der kaum ein Sterblicher Zugang hatte, befand. Er war stolz auf seine Leistungen und es bereitete ihm eine Freude, auch seinen Vater stolz zu machen. Sein Vater war einer der reichsten Männer Estanyors, ein Mann, der in jüngeren Jahren als Fernhändler fast den ganzen Kontinent bereist hatte und inzwischen sesshaft geworden war und andere Männer losschickte, um mit Waren in seinem Namen Handel zu treiben und so seinen Reichtum noch weiter zu mehren. So wie Jevirs Vater stolz auf seinen Sohn war, so war dieser auch stolz darauf, einen solchen Vater zu haben, denn Eran war nicht einer jener reichen Pfeffersäcke, die Gold und Edelsteine nur für sich horteten, sondern jemand, der sein Geld dafür nutzte, Gutes zu tun und dafür zu sorgen, dass auch andere von ihm profitierten.
Eran lieh Handwerkern und Bauern Geld und verlangte nur wenig mehr als das Gegebene zurück und oft kamen diese Männer auch Jahre später noch einmal zu ihm, um ihm dafür zu danken, ihnen in schwierigen Lagen geholfen zu haben. Einige dieser Männer hatten es selbst durch seine Hilfe zu Reichtum und Ansehen gebracht und Eran schaffte es so, ein Netzwerk aufzubauen, was schließlich dazu führte, dass er zum Hoflieferanten des kaiserlichen Palastes wurde und diesen mit fast allem, was benötigt wurde, exklusiv versorgte.
Eran hatte mehr, als er sich nur hatte erträumen können, als er damals bei einem kleinen Fernhändler in die Lehre gegangen war, doch kam der Tag, an dem die größte Ehre, die ihm zuteil werden konnte, ihm den größten Schmerz verursachte und ihm das nahm, was ihm immer am wichtigsten gewesen war.
Es war ein verregneter Herbsttag gewesen, als es an der Tür klopfte und die Diener drei Männern in dunklen, würdevollen Roben öffneten.
„Euer Sohn ist ein außergewöhnlicher Junge“, hatte einer der Männer, welcher der Vorsteher der Tempelschule war, Eran verkündet.
„Der Palast hat daher entschieden, ihm der Stimme der Toten darzubieten“, sagte ein anderer, den Jevir nicht kannte.
Erans Miene war wie versteinert und die Worte des Dankes für diese Ehre wurden von ihm aufgesagt, als seien sie einstudiert und kämen keineswegs von Herzen. Schließlich machte Eran Jevir damit geradezu wütend, als er den Männern von all den Makeln seines Sohnes erzählte; angefangen davon, dass er angeblich etwas zu klein geraten war, über Kritik daran, dass er manchmal mit den Gedanken woanders war und dann seine Aufgaben vernachlässigte und schließlich endet damit, dass er glaubte, sein Sohn würde der Stimme der Toten, wie der Kaiser genannt wurde, nur eine Enttäuschung sein.
Jevir kochte innerlich vor Wut über diese Worte, doch war er zu gut erzogen und zu sehr von den Männern eingeschüchtert, als dass er seinem Vater in ihrer Gegenwart ins Wort gefallen wäre und ihm widersprochen hätte.
„Die Entscheidung steht fest“, hatte schließlich der dritte von ihnen gesagt, hatte Eran eine versiegelte Urkunde übergeben und war mit seinen Begleitern wieder gegangen.
„Warum hast du so schlecht über mich geredet?“
Jevir musste seinen Zorn im Zaune halten und ballte die Fäuste. Sein Vater starrte ihn unverwandt an, dann sah Jevir in seinen Augen Tränen glitzern. Er hatte dies bisher nur ein einziges Mal gesehen; vor einigen Jahren, als seine Mutter gestorben war, und dass sein Vater nun, da Jevir so geehrt werden sollte, derart reagierte, irritierte den Jungen.
„Zu einem Diener der Stimme der Toten zu werden heißt, dass du selbst als tot giltst“, sagte sein Vater ihm. „Du wirst nicht mehr zu den Lebenden zählen. Man wird dich in die Nekropole bringen und du wirst sie nie mehr verlassen. Du bist tot, mein Sohn.“
Es war nicht nur eine Übertreibung seines Vaters gewesen, zumindest nicht völlig, wie Jevir recht schnell erkannte, nachdem ihm sein altes Kindermädchen alles erklärt hatte und sie erklärte ihm alles, was nun für ihn bevorstand. Am nächsten Tag kam noch einmal ein Priester, der ihn auf alles vorbereitete, was kommen sollte, und dennoch war es für Jevir ein höchstseltsames und beunruhigendes Gefühl, als man ihn sieben Tage später wie einen Toten aufbahrte und in einer langen Prozession zu dem Tempel trug, den er regelmäßig mit seinem Vater und den Dienern besucht hatte, um dort zu den Ahnen zu beten. Sein Vater hielt eine Rede, in der er von seinem Sohn sprach wie von einem Toten, davon erzählte, wie stolz er auf ihn gewesen war und dass er sich gewünscht hatte, dass er irgendwann seine Geschäfte übernehmen würde, die er sicherlich besser führen würde, als er es selbst vermochte. Jevir wäre am liebsten aufgesprungen und hätte seinem Vater gesagt, dass er es tun würde, dass er nicht zum Kaiser gehen wollte, sondern immer bei ihm bleiben wollte, doch er wusste auch, dass er seinen Vater und auch den Kaiser so auf eine nicht wieder gut zu machende Art beschämt hätte und so ertrug er die Worte.
Nachdem im Tempel die Totenriten ausgeführt worden waren, trug man ihn in einer Prozession, als die Sonne bereits unterging, hinauf zur Nekropole. Er sah die steinernen Fratzen von Dämonen und Ungeheuern, die über die Dächer hinausragten und von denen es hieß, in ihrer Schrecklichkeit sollten sie wahre Unholde in die Flucht schlagen. Schließlich waren sie in den Thronsaal gelangt und alle, bis auf den aufgebahrten Jevir, hatten sich vor dem Thron niedergeworfen.
„Ich bringe Euch meinen Sohn, Stimme der Toten“, sagte Eran und Jevir hörte das Leid in der Stimme seines Vaters mitschwingen. „Möge er Euch dienen im Leben wie auch im Tod.“
Jevir hörte den Kaiser nichts antworten und schließlich erhoben sich alle, die mit in den Thronsaal gekommen waren, und verließen ihn rückwärts mit gesenkten Haupt. Der Junge fühlte, wie sein Herz pochte und er glaubte, er müsste nun wirklich sterben, als er die dünne Stimme des Kaisers hörte.
„Steh auf, mein Sohn“, sagte der Kaiser und Jevir gehorchte und sah das erste Mal in das Gesicht des Mannes, der das mächtigste Reich der Welt beherrschte. Er war sehr alt und hatte kein Haar mehr auf dem Kopf, doch dafür einen langen, weißen Bart und, zu Jevirs Überraschung, gütige Augen.
Der Junge kniete vor dem Thron nieder und der Greis kicherte.
„Erhebe dich, es ist nicht nötig, vor mir zu knien“, sagte er. „Ich bin auch nur ein Diener. Du musst dich nicht fürchten.“
Jevir fürchtete sich dennoch, doch zeigte sich, dass es hierfür keinen Anlass zu geben schien. Der Kaiser war ein zutiefst liebenswürdiger Mann und seine Diener, von denen einige fast so alt waren wie er selbst, andere jedoch nicht viel älter als Jevir, behandelte er eher wie Familienmitglieder und weniger wie Untergebene. Er führte Jevir in hinein in die Stadt der Toten, zeigte ihm sein Schlafgemach, welches nicht weniger prächtig war als das, welches er in der Stadtresidenz seines Vaters gehabt hatte. Die Fenster jedoch waren dick und grün und das Licht, welches durch sie fiel, war schwach. Dafür brannten jedoch viele Kerzen und Lampen und einer der Diener erklärte Jevir, dass es seine erste Aufgabe sein würde, dafür zu sorgen, dass immer genügend Kerzen zur Verfügung standen.
„Mit der Zeit wird die Dunkelheit ihren Schrecken für dich verlieren, doch nur einem ist es vergönnt, sie wahrlich zu beherrschen“, hatte der Kaiser gesagt, doch war Jevir nicht dazu gekommen, zu fragen, was der Kaiser hiermit meinte.
In der Stadt der Toten, wie der gewaltige Palastkomplex genannt wurde, herrschte immerzu eine tiefe Stille, die nur manchmal durch geflüsterte Gespräche durchbrochen wurde. Nicht alle Bereiche des Palastes standen Jevir von Anfang an offen und kam recht schnell zu dem Schluss, dass in ihnen weitere Diener lebten, denn in den ersten zwei Wochen seines Lebens dort im Palast kamen auch zwei weitere Diener, ein hübsches junges Mädchen und ein weiterer Junge, den Jevir aus der Schule kannte, in den Palast, doch sah er sie schon bald nicht mehr.
Für einen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen wäre das Leben im Palast zweifellos eine Verbesserung gewesen und auch Jevir hatte eigentlich kaum Grund zur Beschwerde. Essen und Trinken gab es in völligem Überfluss, obwohl in den ihm noch verschlossenen Bereichen der Stadt der Toten noch viele weitere Diener leben mussten und mit der Zeit wuchs Jevirs Neugier und er begann, die älteren Diener über diese Räumlichkeiten und Gebäude zu befragen, doch wichen sie seinen Fragen aus. Dies sorgte freilich nur dafür, dass die Neugier nur noch weiter entfacht wurde. Wenn er nachts in seinem Bett lag, träumte er nun manchmal davon, wie er durch eine der Türen in die ihm verbotenen Bereiche ging und in diesen Träumen sah er Diener mit Skeletten lustig und doch unheimlich tanzen. Ein Skelett lag oben auf einem Schrank und trank vom besten Wein, den Jevirs Vater an den Palast geliefert hatte. Der Wein floss jedoch einfach hinab, da es weder Speiseröhre noch Magen gab, und es sah aus, als sei alles mit Blut besudelt.
Oft schrak Jevir dann aus diesen bizarren Träumen auf und hatte dann manchmal das Gefühl, aus dem Dunkel beobachtet zu werden, doch wenn er seinen Mut zusammennahm und in die Finsternis starrte, so sah er nichts und glaubte, zu hören, wie sich leise Schritte entfernten.
Jevir war schon einige Monate im Palast, als ein Neuankömmling eines Tages auftauchte und für mehr Freude und Leben im Palast sorgte, als Jevir seit seiner Ankunft miterlebt hatte: Es war eine kleine, schwarze Katze mit weißer Brust und klugen, grünen Augen, die irgendwie ihren Weg in die Stadt der Toten gefunden hatte und hiermit wohl eine Art Katzenparadies gefunden hatte. Es gab zwar keinerlei Ratten und Mäuse im Palast, was Jevir, als er darüber nachdachte, gerade in Anbetracht der übervollen Speisekammer ein wenig wunderte, doch war eben diese Speisekammer denn auch ein Quell schier unendlicher Genüsse für das Tierchen, welches von den Dienern nur allzu gerne mit Fleisch versorgt wurde, welches woanders nur die gutbetuchtesten Bürger sich leisten konnten. Die Katze wurde zu Jevirs Freund und meist schlief sie am Fußende seines Bettes und auch wenn er seine täglichen Arbeiten verrichtete, war sie meist an seiner Seite.
So war es auch an jenem Tag, als er einen der Korridor feudelte, der zu den ihm verwehrten Teilen des Palastes führte. Die Tür stand einen Spalt weit offen, war zwar ungewöhnlich, aber nicht vollkommen seltsam war. Manchmal vergaßen Diener, die hindurchgingen, um dort irgendwelchen Arbeiten nachzugehen, die Türen zu schließen. Wenn sie mit ihren dortigen Aufgaben fertig waren, kamen sie immer vor dem Abendmahl zurück und wenn sie es nicht taten, dann sah Jevir sie nie wieder, was er so deutete, dass sie vielleicht in gewisser Weise befördert worden waren, und nun dort blieben. Lediglich der Kaiser, der in dem Teil des Palastes lebte, in dem auch Jevir wohnte, blieb oft bis nach Anbruch der Dunkelheit in jenen anderen Bereichen.
Als Jevir den dunklen Boden an jenem Tag wischte, an dem der Kaiser im Thronsaal Audienzen gab, sah er gerade noch den Schwanz seiner pelzigen Freundin im Türspalt verschwinden, als er nach ihr sehen wollte.
„Pspsps! Komm zurück!“ Jevir wagte es nicht, laut zu rufen, wusste aber selbst nicht recht, warum. „Pspsps!“
Die Katze hörte nicht auf ihn und zeigte sich nicht wieder und so lehnte Jevir den Wischmob an eine Wand und näherte sich der Tür.
„Na komm schon zurück!“, versuchte er es noch einmal und als er sich der Tür näherte, fühlte er, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Führte die Tür nach draußen, oder bildete er sich die Kälte nur ein? Er schlich näher heran und obwohl er genau wusste, dass er es nicht durfte und ein Teil von ihm auch sagte, dass er es auch eigentlich gar nicht wollte, legte er schließlich eine Hand an die Tür und schob sie ein Stück weiter auf. Ein Korridor führte zu einer weiteren Tür, die offen stand und durch die die Katze gegangen sein musste. Das Licht, welches durch die gefärbten Gläser fiel, war sehr schwach, reichte jedoch aus, um die unheimlichen Reliefs an den Wänden zu erkennen, die Schlachtszenen zeigten, in denen Menschen gegen Ungeheuer kämpften und von diesen verschlungen und zerrissen wurden. Jevir wandte den Blick von diesen furchtbaren Bildern ab und eilte der Katze hinterher. Er hatte das Gefühl, sie rasch greifen und zurückbringen zu müssen, wobei er die Tür hinter sich fest verschließen würde.
Er kam in einen Raum, an dessen Wänden sich auf Ständern Rüstungen befanden, die aussahen wie einige, welche von den menschenähnlicheren Unholden auf den Reliefs getragen worden waren und während er diese fasziniert betrachtete, vergaß er einen Moment ganz, weswegen er überhaupt hergekommen war. Mit einem für ihn recht untypischen Fluch löste er seinen Blick von ihnen und lief durch die nächste offene Tür, welche die Katze genommen haben musste, wobei er sich in einem Raum wiederfand, der prächtiger eingerichtet war, als der des Kaisers selbst. Der Raum war größer als der Thronsaal. An einer Wand standen Regale voller dicker Bücher und Schriftrollen, an der anderen verdeckten schwere, dunkle Vorhänge die Fenster. Dennoch war es in dem Raum nicht vollkommen finster, denn überall brannten Kerzen, die länger und dicker waren als Jevirs Arme, in eisernen Ständern. Sessel mit hohen Lehnen standen hier und dort mit kleinen Beistelltischen und am anderen Ende des Raumens, gegenüber der Tür, befand sich ein riesiger, fast schwarzer Schreibtisch und hinter diesem eine weitere Tür, die jedoch verschlossen war. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch, doch die Schrift, in der es geschrieben war, kannte Jevir nicht. Er begann, ein wenig in dem Buch zu blättern, kehrte dann jedoch rasch zu der Seite zurück, auf der es aufgeschlagen gewesen war, nachdem er ein Bild gesehen hatte, welches er schnellstmöglich wieder vergessen wollte und das grässlicher gewesen war als alle Reliefs, die ihm bisher vor Augen gekommen waren.
Er schaute über den Schreibtisch zur offenen Tür, vor der nun die Katze stand. Aber die Tür war doch nicht offen gewesen! Noch ehe Jevir darüber nachdenken konnte, griff eine schneeweiße Hand durch den Türspalt nach der Katze, legte nahezu knöcherne Finger um ihren Hals und zog sie ins Dunkel, während der kleine Tier begann, zu zappeln und versuchte, sich zu wehren, doch keinen Laut hervorbringen konnte.
Jevir wollte schreien, konnte aber nur nach Luft schnappen und wich vor der Tür zurück, wobei er stolperte und stürzte, versuchte sich aufzurappeln, und wieder fiel. Die langen Finger legten sich um den Rand der Tür. Ganz langsam, wie die Beine einer Spinne, die sich erwartungsvoll ihrer Beute näherte. Die Tür öffnete sich weiter, doch nicht völlig, doch das, was Jevir sah, reichte bereits aus und er begann, zu wimmern und seine Ahnen um Hilfe anzuflehen. Aus der Finsternis hinter der Tür leuchtete rot ein Augenpaar in einem ausgemergelten, totenbleichen Gesicht. Die Wangen waren tief eingefallen wie auch die Augenhöhlen und die Nase ließ es aussehen, als sei es der Schädel eines Toten. Die Kreatur starrte ihn ausdruckslos an, doch dann verzog ihr Gesicht zu etwas, das aussah wie ein grässliches Lächeln, bei dem es lange Reißzähne offenbarte. Blut lief die Mundwinkel hinab, welches die Bestie mit einer purpurnen Zunge aufleckte.
„Ein neuer Besucher“, sagte das Wesen und seine Stimme war tief und leise. „Nachdem ich nun so oft schon dich aufsuchte, freue ich mich, dass du nun den Weg zu mir gefunden hast.“
Jevirs Herz pochte wie wahnsinnig und er glaubte, es würde fast zerspringen. Dies musste alles ein furchtbarer Alptraum sein.
„Mich … aufgesucht?“, brachte er schließlich heiser hervor und die Teufelsfratze ließ ein Lachen erklingen, das klang wie brechende Äste.
„Natürlich. Du lebst in meinem Haus. Du bist einer meiner Diener. Denkst du, ich würde mich nicht darum scheren, wer mir dient?“
„Ich diene dem Kaiser“, sagte Jevir und wenngleich die Worte selbst fast schon trotzig waren, so zitterte seine Stimme doch. „Ich diene der Stimme der Toten.“
„Und wer bin ich?“, fragte die Kreatur.
Jevir schnappte nach Luft, die eiskalt geworden zu sein schien, doch er konnte keine Worte hervorbringen.
„Dein Kaiser ist meine Stimme, wie es viele vor ihm waren. Er herrscht, weil ich ihn auserkor aus all den Opfern, die man mir brachte und er herrscht, weil er es so tut, wie ich es verlange. Du hältst mich für ein Ungeheuer nicht wahr?“
Jevir blickte in die leuchtend roten Augen.
„J-Ja“, sagte der Junge, denn er glaubte nicht, dass es ihm irgendetwas bringen würde, aus Höflichkeit zu lügen.
Die Kreatur zeigte wieder ihr grässliches Lächeln.
„Närrisches Kind“, sagte sie. „Bin ich das Ungeheuer, oder nicht selbst nur ein Opfer dessen, der mich zu dem machte, was ich bin?“
„Seid Ihr … wart ihr ein Kaiser?“, fragte Jevir.
„Ich war ein König“, sagte das Wesen. „Ein Heerführer, ein Schlächter unzähliger Feinde, ehe ich das wurde, was mir ermöglichte, so viel mehr zu sein, als ich je war, doch mich für immer zu dem verdammte, was ich nun bin.“
Jevir verstand nicht recht, was diese Kreatur dort erzählte, doch so lange das Wesen noch sprach, würde es nicht aus der Dunkelheit herausspringen und ihn töten.
„Ein König wart ihr?“, fragte Jevir in der Hoffnung, so ein Gespräch am Laufen zu halten bis vielleicht irgendjemand kommen und ihm helfen würde.
„Du fragst nach dem, was ich einmal war, obwohl du doch viel eher wissen willst, was ich bin“, sagte die Kreatur und wirkte amüsiert. „Doch das eine führt zum anderen und so werde ich dir erzählen, wer ich war und wie ich wurde, wer ich bin.“
Jevir nickte nur und lauschte dem Wesen.
„Als ich meinem Vater auf den Thron folgte, war ich noch ein junger Mann in einer Welt, die eine andere war. Meine Ahnen dienten Cevarin, dem Schöpfer dieser Erde, dessen neiderfüllten Geschwister ihm die Herrschaft entrissen hatte und als Cevarin von ihnen schließlich niedergerungen wurde, bedeutete dies auch für mein Volk den Niedergang. Ich wurde also König einer zerlumpten Schar wilder Barbaren, die immerzu in Angst lebte vor den Schwertern und Bögen der Elben und den Speeren und Äxten der Velmen. Kaum mehr als Tiere waren meine Untertanen und ich hasste sie für ihre Schwäche und sehnte mich nach Macht, um mein Volk zu neuem Glanz zu führen. Doch an wen konnte ich mich wenden? Cevarin war fort, seine Feldherren waren getötet und gebannt und es war ein neues Zeitalter angebrochen, in dem die Merohim sich als Herren der Welt aufspielten.
Ich wollte die Hoffnung jedoch nicht aufgeben und so ließ ich meinen Bruder an meiner Statt herrschen und machte mich selbst auf eine Reise, um zu sehen, ob es nicht irgendwo in dieser verfluchten Welt nicht doch jemanden geben würde, der in der Lage sein würde, die zerstreuten Anhänger Cevarins wieder um sich zu scharen, ihn zu rächen und die Freiheit zu erlangen.
Ich ging in den Süden, um unter falschem Namen im Reiche Belcasgar zu lernen, Magie zu beherrschen, und ich segelte nach Ilranuh, um meine Fähigkeiten in Xuzail noch weiter zu meistern. Ich traute mich gar ins Land der Merohim, doch konnte ich dort nicht lange verweilen, spürte ich doch, dass sie meinen wahren Absichten auf die Schliche kamen und es mich zu große Kraft kostete, einen Schleier aufrechtzuerhalten. Die Zeit dort war jedoch nicht verschwendet, denn sie machte mich nur stärker und so konnte ich denn schließlich in den Norden gehen, um mich unter die Velmen zu mischen, ein Berater ihrer Könige zu werden und schließlich einer, der bei den Elben ein und ausging und von ihnen viel über die Kriege und Geschehnisse der ältesten Tage erfuhr.
So erzählte mir denn ein Elb von einem Hexenmeister, der im Dienste Cevarins und in dessen Gunst stand, obwohl er doch nur ein Mensch war und kein Teufel oder Dämon. Den Namen dieses Hexenmeisters konnte mir der Elb nicht nennen, doch zählte für mich ohnehin nicht der Name, sondern nur das, was er über diesen Hexenmeister zu berichten hatte:
Es war dies eine der gewaltigsten Schlacht der ältesten Tage, in der Cevarin selbst hervorgekommen war, sein Heer anzuführen, und es heißt, seine Schar war so groß, dass ein Elb auf einem Berge stehend sie nicht gänzlich überblicken konnte. Das Bündnis aus Elben und Velmen war zahllos weit unterlegen, doch kämpfte es mit dem Mut der Verzweiflung. Die Hoffnung aber schwand mit jedem Schwertstreich Cevarins dahin und schließlich flehten und winselten sie um Hilfe, um göttlichen Beistand. So geschah es dann auch, dass die Sonne erstrahlte wie nie zuvor und die Soldaten Cevarins blendete, sodass sie zunächst gar nicht begriffen, was mit ihnen geschah, ehe es zu spät für sie war: Flammen hüllten sie ein und verbrannten sie und aus diesen gleißenden Flammen trat der Sentar Peiarur höchstselbst hervor, um sich seinem Bruder im Zweikampf zu stellen.
Und Cevarin nahm die Herausforderung an.
Als die beiden Mächtigsten aufeinander trafen, erbebte die Erde. Land wurde auseinandergerissen, Donner grollte und die Schlacht um sie herum war zu einem fast völligen Stillstand gekommen, denn auf beiden Seiten konnte kaum jemand sich von dem Anblick der miteinander streitenden Göttlichen trennen, der Ehrfurcht und Entsetzen in ihnen auslöste. Mit dem Erschaffen der Welt hatte Cevarin den größten Teil seiner Macht verloren, doch war er seinem Bruder, Herrn des Feuers und der Sonne, noch immer überlegen, und so schaffte er es denn, in meiner seiner Klinge zu verletzen, auf dass das erste Mal das Blut eines Sentar vergossen wurde und auf die Erde fiel. Peiarur aber war dadurch nicht besiegt und mit einem letzten Aufbegehren ließ er Feuer wie wütende Wellen des tosenden Meeres über seine Feinde hinwegfegen, die jämmerlich verbrannten, während die letzten überlebenden Velmen und Elben unversehrt blieben und die Gelegenheit nutzen konnten, zu fliehen. Diese Schlacht kannte keinen Gewinner: Peiarur floh und Cevarin kehrte in seine Festung im Norden zurück.
Doch waren nicht alle von seinen Schergen umgekommen. Weit am Rande der Schlacht, gerade außer Reichweite der heiligen Flammen, hatte der Hexenmeister gekämpft und als nun die Dunkelheit sich über das tote Land legte, stolperte er einem Licht folgenden über das Schlachtfeld, welches übersät mit bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen und hier und dort noch immer brennenden Feuern war. Das Licht, zu dem es ihm lockte, war jedoch kein Feuer, sondern es ging von dem Blut aus, dass Peiarur vergossen hatte.
Blutmagie gehört zu den mächtigsten Formen der Zauberei. Mit ihr können die stärksten Pakte besiegelt werden, mit ihr können Leben aneinander gebunden werden und mit ihr wollte der Hexenmeister nun auch dem eigenen drohenden Tod, welcher das Schicksal eines jeden Menschen ist, entgehen. So sah er denn das Blut des Sentar und er wusste, dass dies ihm eine Macht bescheren würde, die er sich zuvor niemals hätte erträumen können. Er würde über den Teufeln und Dämonen stehen, die Cevarin dienten, würde durch das Blut des Sentars seinem eigenen Herrn näher sein, als jeder andere es je sein könnte und so ließ er sich denn auf die Knie sinken, neigte das Haupt und begann zu trinken.
Es muss ein erhabenes Gefühl gewesen sein, als die Macht des Sentars ihn durchströmte. Er hatte das Blut des Herrn des Feuers, des Schöpfers der Sonne, des Herolds des Tages zu sich genommen und diese Macht würde zum Stellvertreter seines eigenen Fürsten machen. Mit einem Hochgefühl erhob er sich, verließ das Schlachtfeld und ritt gen Norden. Doch als er während einer Abenddämmerung sein Nachtlager aufschlagen wollte, trat eine Gestalt zu ihm heran und als sie ihren Mantel zurückwarf, erkannte der Hexenmeister, dass es ein Merohir war, der von Peiarur gesandt worden war.
„Ergötze dich ein letztes Mal am Anblick der Sonne, Verfluchter“, sagte der Merohir und deutete auf die Sonne. „Dies ist das letzte Mal, dass du sie sehen sollst. Du hast dich an meinen Herrn Peiarur gebunden, weil du dir Macht dadurch erhofft hast, doch hast du Narr nicht bedacht, dass er nun auch Macht über dich hat und seine Macht über dich die des Gefallenen noch weit übersteigt. Dein Meister wird dich nicht von diesem Fluch retten können. Ja, unsterblich wirst du sein, doch Leben wirst du es kaum noch nennen können nach Jahrhunderten der Qual. Du sollst nicht sterben, doch sollst du dahinsiechen, wenn du nicht Blut säufst, was scheinbar das ist, nach das es dich ohnehin gelüstet! Mein Fürst ist der Herr der Sonne und er bestimmt, ob jene, die seines Blutes sind, sie sehen dürfen. Genieße ein letztes Mal ihren Anblick, Hund Cevarins! Wenn der Morgen graut, wird sie dir dein Fleisch von den Knochen brennen und glaube mir, auch wenn dies der einzige Weg für dich ist, den Tod zu finden, so wirst du doch diese Tod nicht ersehnen! Eile zu deinem Herrn, Geschöpf der Nacht, und klopfe an sein Tor, erflehe, hineingelassen zu werden, denn nie wieder sollst du eine Türschwelle übertreten, ohne dass du hierzu eingeladen wirst, weiß mein Herr Peiarur doch, wie du einst ungefragt in den Häusern der Menschen und Elben ein- und ausgegangen bist. Nun eile denn, Blutsauger, und labe dich am Blute deines eigenen Volkes!“
Als der Elb seine Geschichte beendet hatte, war ich fasziniert von dem, was ich gehört hatte. Wie ich war dieser Hexenmeister jemand gewesen, der getrieben worden war von dem Wunsch, mehr zu sein und wie ich später erfuhr, wurde er tatsächlich wieder von Cevarin aufgenommen und diente ihm noch lange gut, ehe nach dem Fall des hohen Herrn im Osten verschwand. So wusste ich denn auch, wohin ich gehen musste und lange wanderte ich die nebelverhangenen Hänge der Berge entlang, ging in den Wäldern und Tälern jedem Gerücht nach und schließlich glaubte ich, den mächtigen Hexenmeister gefunden zu haben, und ich sagte ihm, dass ich vorhatte, die Welt wieder in ein goldenes Zeitalter zu führen, wenn er mit mir doch nur einen Teil seiner Macht abgeben würde, so wie er auch einen winzigen Teil der Macht Peiarurs erhalten hatte, nachdem er sein Blut getrunken hatte. Das Wesen der Nacht verspottete mich, sagte mir, es wäre gnädiger, mich einfach zu töten und mir so etwas zu geben, was ihm für immer verwehrt sein würde. Ich aber hatte keine Angst und erwiderte, dass ich keine Gnade verlange, da sie mir nichts beim Erreichen meiner Ziele brächte. Ehe ich mich versah, stürzte die Kreatur sich auf mich, trieb mir ihre Fangzähne in den Hals und trank mein Blut begierig, bis ich dachte, ich müsse sterben. Doch als sie von mir abließ und meinen Todeskampf beobachtete, schlitzte sie sich mit einer ihrer Krallen die Pulsader auf und bot sie mir dar und ich trank, um zu überleben.
Ich trank, um zu leben, doch mein Leben endete an jenem Tag. Als ich aus der Höhle stolperte, schien die Sonne und sie verbrannte meine Haut und verursachte mir einen Schmerz, wie ich, der so viel Leid in meinem Leben erfahren hatte, noch nie verspürt hatte und so musste ich mich wieder in die Höhle verkriechen und mich dem Spott meines „Vaters“ aussetzen, der mir erzählte, dass auch er nur ein Kind in der langen Reihe der Nachfahren jenes Hexenmeisters von einst war. Er erzählte mir Dinge, die mit dem übereinstimmten, welche mir der Elb erzählt hatte und als schließlich die Nacht anbrach, verließen wir gemeinsam die Höhle, doch trennten sich unsere Wege rasch und ich hörte nie mehr von meinem Schöpfer.
Ich war nun ein Wesen der Dunkelheit und es dauerte, bis ich lernte, meine neuen Fähigkeiten einzusetzen. Ich kehrte zu meinem Bruder zurück, der inzwischen Vater starker Söhne war, die er mit einem Velmin gezeugt hatte, denn mein Bruder war nicht von kriegerischer Natur gewesen, sondern auf Frieden bedacht. Doch war dies natürlich ein falscher Frieden und so forderte ich ihn auf, mit den Thron wieder zu überlassen und sein Weib fortzujagen. Der Narr lehnte ab und als ich in meiner Wut meine Neffen und seine Frau tötete und einen jeden Krieger, der sich einmischte, nützte dies nichts und er nannte mich ein Ungeheuer. Da labte ich mich an seinem Blut und zwang ihn, mein eigenes zu trinken, um ein ebensolches Ungeheuer zu werden wie jenes, das er in mir sah. Ich versuchte, ihn zu überzeugen, dass ich ihm einen Gefallen getan hatte. Ja, der Tag war uns verwehrt, doch waren wir Fürsten der Nacht und konnten in dieser so viel mehr vollbringen als es ein Mensch am Tag je könnte. Mein Bruder verstand nicht. Er wollte nicht verstehen. Und als die Sonne aufging und ich mich in die Finsternis zurückzog, trat er hinaus und verbrannte, wobei ich nicht verleugnen kann, dass ich ihn, als ich seine Schreie hörte, auf eine gewisseWeise dafür bewunderte, dass er vor dem Schmerz nicht floh und auch sein Schicksal, niemals erlöst zu werden, annahm.
Ich konnte mein Volk jedoch nicht beherrschen und daher entschied ich, es zu vernichten, was mir letztendlich auch gelang. Nur wenig später geschah nun das, was ich als Zeichen dafür sah, dass meine Tat richtig war: Die Merohim vernichteten sich selbst, als die Elben gegen sie rebellierten, und als die Noam Asorl in Flammen aufging und die Erde erbebte, die Fluten der tosenden See Belcasgar und Xuzail hinwegsschwuschen und der Himmel sich für Jahre verdunkelte, wusste ich, dass dies im Verborgenen doch Cevarins Werk war. Cevarin hatte Schwert und Streithammer abgelegt und lenkte nun die Geschicke dieser Welt aus dem Verborgenen heraus und die Jahre der Finsternis, die er auf diese Weise einleitete, sah ich als den Lohn für meine Ergebenheit. Ich hatte von ihm gelernt und wusste nun, dass ich nicht voreilig und wie ein wildes Tier vorgehen durfte. Ich war zum Unsterblichen, zum Untoten geworden und ich hatte nun alle Zeit der Welt, meine Pläne zum Ruhme des Herrn der Erde zu verwirklichen. So ging ich denn an eben diesen Ort hier und ich scharrte Menschen um mich unter dem grauen Himmel der Jahre der Dunkelheit und ich half ihnen, jene Zeit zu überstehen, wo andere Völker scheiterten und vergingen. Sie liebten und verehrten mich, doch ließ ich sie in Unkenntnis darüber, wer oder was ich wirklich war, um nicht die Aufmerksamkeit der Elben, die im Westen immer noch herrschten, zu erwecken.
Als sich nun nach langer Zeit die finsteren Wolken wieder vollkommen zurückzogen und die Tage länger wurden, wählte ich einen Getreuen aus, der an meiner Statt regieren sollte, während ich selbst mich in ein Grabmal zurückzog, welches ich mir errichten ließ. Mein treuer Diener war nun meine Stimme und mit den Jahrhunderten, die vergingen, wuchs die Stadt der Toten an. Ich musste nicht mehr hinausgehen, um meinen Durst zu stillen, denn jene Eingeweihten brachten mir Nahrung und so kamst du, Kind, schließlich zu mir.“
Jevir hatte wie im Bann der Geschichte der Kreatur gelauscht und als sie schließlich ihre Erzählung beendete, fühlte er, wie die Angst in ihm wieder größer wurde.
„Wirst du jetzt auch mich töten?“, fragte er schließlich, nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte, doch sein Gegenüber lachte nur.
„Das könnte ich, doch glaube ich, dass mir deine Gesellschaft doch mehr zusagt als die Wärme deines Blutes. Nein, Kind, heute werde ich dich nicht töten. Ich lade dich ein, wieder herzukommen. Vielleicht werde ich auch dich wieder aufsuchen.“ Die Kreatur grinste erneut und ihre Augen leuchteten hypnotisierend. „Du wirst mir natürlich treu bleiben und keinen Gedanken daran verschwenden, meinen Palast zu verlassen.“
Jevir starrte in die roten Augen und schüttelte den Kopf.
„Nein, natürlich nicht“, sagte er und meinte es so, auch wenn irgendetwas tief in ihm drin ihn geradezu anflehte, zu fliehen.
„Dann geh nun“, sagte das Wesen. „Auf bald.“
Jevir ließ es sich nicht zweimal sagen und sprang auf. Er eilte zur Tür, wobei es einige Überwindung brauchte, dem Wesen den Rücken zuzukehren. Als er gerade über die Schwelle treten wollte, ertönte noch einmal die tiefe Stimme.
„Ah, du willst deinen kleinen Freund hier doch nicht vergessen, nicht wahr?“
Jevir drehte sich um und aus der Finsternis flog ein schwarzes Knäuel durch den Raum und landete mit einem widerwärtigen Geräusch vor seinen Füßen. Der Junge starrte die kaum noch erkennbare Masse zu seinen Füßen an und konnte mit Mühe ein Würgen unterdrücken, ehe er hinausrannte.